Die meisten von uns hatten schon ein recht präzises Bild von der Liebe, noch bevor sie ihren ersten unbeholfenen Kuss auf die Wange bekommen haben. Von Tim aus der 5b, an der Tischtennisplatte auf dem Schulhof, irgendwann zwischen Bio und Mathe. Die große Liebe, das aufregendste Mysterium, das es im Leben eines frühpubertären Mädchens, wie ich es war, geben kann. Ein ungelöstes Rätsel, von dem es sich wunderbar träumen lässt und mit dessen Lösung das perfekte Leben in der Zukunft winkt.
Wie kann man denn in solch zartem Alter schon derartige Erwartungen an die Liebe haben? In meinem Fall findet sich die Antwort darauf wohl in jedem jemals erschienene Disney-Film und der Freche Mädchen – freche Bücher– Reihe. Titel wie Liebestrank & Schokokuss oder Liebeslied & Schulfestküsse verschlang ich Abend für Abend und lernte dabei jede Menge über Schmetterlinge im Bauch und Herzen, die einem fast aus der Brust springen. So muss es sein, wenn ich eines Tages die große Liebe treffe, dachte ich, und freute mich auf diesen Tag mehr als auf Geburtstag und Weihnachten zusammen.
Wenn kleine Mädchen von der großen Liebe träumen
So träumte ich also vor mich hin, Jahr für Jahr bis zum ersten richtigen Kuss, bis zum ersten richtigen Freund. Gefühlstechnisch kam das den Erlebnissen meiner Kindheitsheldinnen schon recht nahe. Nur läuft so eine Beziehung zwischen Neuntklässlern leider selten ab wie bei Highschool Musical. Nach weniger als einem Jahr hatte es sich ausgeschmetterlingt. Stattdessen bestand mein Liebesleben nun aus gemeinen Gerüchten, intriganten Freundinnen und „Gib mir noch zwei Monate, dann können wir wieder ein Paar sein“- Hinhalte-Manövern. Er ist doch meine große Liebe, dachte ich, und ließ mich von ebenjener noch ein weiteres Jahr verarschen.
So ist das mit der Liebe im echten Leben. Vor allem, wenn es sich bei ihr um 15-jährige Jungs in der Rebell- und Selbstfindungsphase handelt. Gestern noch der schüchterne Traumprinz mit Zahnspange, heute der Carhartt-Pulli-Macho, der rauchend in der Schulhofecke intime Details aus eurem Liebesleben ausplaudert. In gewissem Maße könnte man meine erste Berührung mit der großen Liebe wohl durchaus als traumatische Erfahrung einordnen. Und damit bin ich ganz sicher nicht alleine.
Eine Romantikerin auf dem Boden der Tatsachen
Obwohl mich das Drama der ersten Trennung fast meinen Schulabschluss gekostet hätte (ich war mehr mit wütenden ICQ-Nachrichten beschäftigt als mit Mathelernen), bin ich heute fast schon dankbar für diese Erfahrung, die mich schon sehr früh auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hat. Denn dank des Wissens, dass Schmetterlinge im Bauch kein Garant für eine glückliche Beziehung sind, konnte ich meine Prioritäten bei späteren Partnern anders, und wie ich finde, klüger setzen.
Drei weitere „Fehlschläge“ (Sorry, Jungs) hat es gedauert, bis ich auf meinen jetzigen Partner traf, da war ich 21 Jahre alt. Damals habe ich mich gefragt, ob wir überhaupt zusammenkommen sollten. Denn bei allem aufrichtigen Interesse – von Schmetterlingen im Bauch konnte nicht die Rede sein. Es wäre auch gelogen, zu behaupten, dass mein Faible für romantische Komödien und große Liebesgeschichten ihren Einfluss auf mein Verständnis von Liebe gänzlich verloren hätten – nur weil es damals in der 9. Klasse nicht geklappt hat.
Aber ich habe versucht, mich immer und immer wieder daran zu erinnern, dass die filmische Liebe Fiktion ist und das, was ich will, echte Liebe ist und jene demnach nicht mit der im Film gleichzusetzen ist. Sehr viel Theorie für eine 21-Jährige. Aber es hatte zur (glücklichen) Folge, dass ich den neuen Kerl in meinem Leben nicht direkt abgesägt habe, nur weil mein Puls in seiner Gegenwart einigermaßen gleichmäßig geblieben ist.
Worauf es bei der großen Liebe wirklich ankommt
Oft habe ich mich in den vergangenen Jahren gefragt, ob unsere Liebe denn wirklich „gut genug“ sei und ob uns nicht der gewisse Romantikfaktor fehle. Aber jedes Mal, wenn wir Sushi bestellen und in fleckigen Jogginganzügen den Tatort schauen, jedes Mal, wenn er mir ohne zu Murren einen riesigen Gefallen tut, jedes Mal, wenn wir uns über unsere eigenen blöden Wortwitze kaputtlachen, bin ich froh, dass ich die Prinzen dieser Welt hab Prinzen sein lassen und stattdessen einen echten Menschen gefunden habe.
Einen Menschen, der nicht fehlerfrei ist und der keinen Hang zu großen, romantischen Gesten hat. Der dafür aber aufrichtig und ehrlich ist und der mich nie bewusst verletzen würde. Einen Menschen, der treu und loyal ist und von dem ich weiß, dass er immer da sein wird, wenn es darauf ankommt. Für mich ist das mehr wert als alle Schmetterlinge der Welt. Und für die Frechen Mädchen ganz bestimmt auch.
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