Berlin Friedrichstraße, ich komme völlig gehetzt und vollbepackt von der Uni-Bibliothek, verschwitzt und genervt, keine Lust auf die U-Bahnfahrt. Weil ich über Kopfhörer einen Podcast höre, bemerke ich zunächst gar nicht, dass man versucht, mit mir zu reden. Ein Touri, der nach dem Weg fragen will, denke ich und versuche freundlich auszusehen. Jan heiße er, sagt der Typ vor mir, mein Alter, katastrophaler Kleidungsstil. Aha, denke ich. „Ich wollte dir nur sagen, dass du sehr hübsch bist“. Lüge, denke ich in meinem verschwitzten Zustand, freue mich aber dennoch ein wenig über das Kompliment.
Ich bedanke mich also höflich und will weiterziehen, der eine Kopfhörer steckt nach wie vor im Ohr. Ob ich von hier komme, fragt er dann. Ich sage ja, ich muss jetzt aber leider los, einen schönen Tag dir noch. Ob ich Tipps habe, was man abends so machen könne. Er sei neu in der Stadt. Ich sage, ich weiß auch nicht, fühle mich zunehmend unwohl, die Bücher auf meinem Arm wiegen hundert Kilo. Es dauert noch eine ganze Weile und viele sinnlose Nachfragen, bis ich mich zu dem Satz „Ich habe einen Freund“ durchringe, der unser beider Leid beendet. Hat mal wieder funktioniert. Und das macht mich wütend. Wieso ist das immer der einzige letzte Ausweg aus einer solchen Situation? Wieso braucht es einen anderen Mann in meinem Leben, damit mein Nein als Nein verstanden wird?
Nein heißt Nein – außer, du bist noch zu haben
Eine liebe Freundin von mir kennt dieses Dilemma wahrscheinlich von allen Frauen auf der Welt am besten. Sie wird praktisch jeden Tag angesprochen, was zum einen daran liegt, dass sie sehr hübsch ist und zum anderen, dass sie mit einem Lächeln durchs Leben geht, das jeder zweite Mann als Einladung zu verstehen scheint. Abgesehen von dem Lächeln (Ich leide seit meinem elften Lebensjahr unter dem sogenannten Resting Bitch Face-Syndrom) ist ein weiterer Unterschied zwischen uns, dass sie single ist. Die Vergeben-Karte kann und will sie also nicht spielen.
Das führt dazu, dass sie ständig mit Handynummern von Typen ankommt, an denen sie gar kein Interesse hat. Obwohl sie genau wie ich von vornherein klares Desinteresse signalisiert, schafft sie es nicht aus den Gesprächen, schafft sie es nicht, sich von der Erwartungshaltung des männlichen Gegenübers zu lösen. Nein heißt Nein, aber nur, solange du gut genug argumentieren kannst. Ein Ring am Finger ist die sicherste Bank, darunter wird’s schwierig.
Frauen werden oft dazu erzogen, es allen recht zu machen
Wir, meine Freundin und ich, haben also darüber gegrübelt, woran es liegt, dass wir immer wieder in solche Situationen geraten. Wieso wir uns verpflichtet fühlen (sie mehr als ich), freundlich und höflich zu sein und in Gesprächen bleiben, die wir nicht führen wollen. Wieso wir uns verantwortlich für Menschen fühlen, die wie gar nicht kennen. Wieso „Nein heißt Nein“ nicht zu zählen scheint, wenn es nur unsrem eigenen Bedürfnis entspricht.
Wir sind zu der Theorie gekommen, dass Frauen oft dazu erzogen werden, es allen recht zu machen (siehe das Wendy-Syndrom). Ob von der Familie, den Medien oder beiden. Denn wie oft hört man als Mädchen oder junge Frau, man solle doch mal lächeln. Und wenn wir etwas nicht wollen, sind wir Zicken. So etwas prägt die eine mehr als die andere, aber am Ende bleibt nicht „Nein heißt Nein“, sondern „Nein heißt du bist schwierig und anspruchsvoll und undankbar“.
Wenn Nein nicht Nein heißt, sondern „es ist nicht ihr Tag“
Zufällig habe ich auf der Seite wikiHow eine „Anleitung“ zum Frauen Ansprechen entdeckt. Und in dieser Anleitung fällt der Satz: „Wenn sie ihre Arme vor der Brust verschränkt, sich von dir wegdreht und nach ihren Freunden Ausschau hält oder auf ihr Handy schaut, ist heute vielleicht einfach nicht ihr Tag.“ – ähm, Entschuldigung? Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, der sich umschaut und Abwehrgesten einnimmt, dann weiß ich, dass sich dieser Mensch unwohl fühlt und entlasse ihn sofort aus der Situation. Alles andere ist Belästigung. Dass Jungs und jungen Männern dazu geraten wird, selbst bei einer solchen Reaktion am Ball zu bleiben, ist erschreckend und erhellend zugleich.
Auf Deutschlandfunk Nova erzählt die Autorin Caroline Rosales, wie ein „Verlegenheitssex“-Vorfall dazu geführt hat, dass sie sich ebenfalls die Frage stellte, warum sich Frauen oft gar nicht erst trauen, Nein zu sagen. Vielleicht, weil sie schon in der Erwartung sind, dass dieses Nein nichts zählt. Oder, so ihre These, weil Bilder von sexuell verfügbaren Frauen in der Werbung und den Medien einen großen Einfluss darauf haben, dass Frauen oft gar nicht in Kontakt mit ihrem eigenen Wollen sind. Wie können wir von unserem eigenen Nein überzeugt sein, wenn es schon beim Flirten auf der Straße das zusätzliche Nein meines (realen oder imaginären) Partners braucht?
Wann ein Flirt zu Belästigung wird, entscheiden wir
Seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland strafbar. Dieses Gesetz ist jünger als ich und beweist, wie lange es dauert, gesellschaftliche Normen aufzubrechen und zu erneuern. Dass Frauen nicht allein zu Vergnügungszwecken und Versorgung des Mannes existieren, dass sie arbeiten, regieren, ihre Meinung durchsetzen – das ist alles verhältnismäßig neu. Und auch wenn es schwerfällt, sich aus unangenehmen Situationen selbst zu befreien, müssen wir – meine Freundin, Caroline Rosales, ich und all die anderen Frauen, die sich unsicher fühlen – uns immer wieder klar machen: Nein heißt Nein! Unser Nein braucht kein Verhandeln, kein Überreden, kein Bedrängen. Und schon gar nicht die Partner-Ausrede. Nicht nur die Männer müssen lernen, dass sie nicht alles kriegen, was sie haben wollen. Auch wir Frauen müssen lernen, dass es nicht unsere Aufgabe ist, zu geben.
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