Fremdgehen ist der häufigste Grund, warum sich Paare trennen – dachte ich immer. Stimmt aber gar nicht. Fremdgehen ist viel mehr ein Symptom für das, was laut Wissenschaftler:innen der tatsächlich häufigste Grund für Trennungen ist: nämlich fehlende Kommunikation.
Eine Studie der Uni Kopenhagen von 2019 zeigt, dass nicht etwa konkrete Vorfälle wie beispielsweise das Fremdgehen Hauptauslöser für Trennungen sind, sondern mangelnde Nähe, schlechte Kommunikation und falsches Streiten. Die Unfähigkeit von Paaren, unterschiedliche Standpunkte zu akzeptieren, zunehmende Entfremdung durch falsche Kommunikation oder das sogenannte Stonewalling führen meistens zur Trennung. Aber was, wenn Untreue zum Thema in der Beziehung wird? Kann man Fremdgehen verzeihen?
Wieso gehen Menschen fremd?
Die meisten Menschen würden wohl von sich sagen, dass sie sich sofort trennen würden, erführen sie von der Untreue des Partners. Tatsächlich passiert das nur in den wenigsten Fällen, verriet mir die Beziehungscoach Aino Simon. Aus ihrer jahrelangen Arbeit mit Paaren, bei denen eine:r fremdgegangen ist, weiß sie, dass Untreue komplexer ist als das – für den betrogenen, aber auch für den betrügenden Part. Simon sagt:
„Betrug entsteht oft deshalb, weil wir nicht miteinander reden. Da schlummert ganz viel in uns, was wir niemals zeigen und selbst in dieser ganz nahen Beziehung uns niemals trauen auszusprechen. Weil wir es vielleicht selbst gar nicht bemerken oder auch weil es so ungewohnt ist, darüber zu sprechen“.
Kann man Fremdgehen verzeihen?
Natürlich ist es legitim, Fremdgehen nicht verzeihen zu wollen oder zu können und sich deshalb zu trennen. Auch bei pathologischen Wiederholungstäter:innen macht es durchaus Sinn, sich selbst zu schützen und die Beziehung zu beenden. Was aber viele Paartherapeut:innen und Coaches wie Aino Simon beobachten, ist, dass die Fähigkeit, Fremdgehen zu verzeihen, eine enorme Chance darstellen kann.
Oft erkennen Paare, bei denen der redensartliche Wurm drin ist, nämlich erst einer solchen Extremsituation, was ihnen gefehlt hat. Untreue führt, zumindest bei den Paaren, die sich für ein Weitermachen entscheiden, zu Gesprächen. Und zwar zu vielen, schmerzhaften und kräftezehrenden Gesprächen. Aber eben diese neue Art der Kommunikation kann eine Nähe zwischen den Partnern schaffen, die vor dem Seitensprung gefehlt hat.
Aino Simon ist überzeugt, dass man Fremdgehen verzeihen kann. Wichtig ist hierbei aber vor allem das Verhalten des betrügenden Parts: „Das Wichtigste, was der Betrügende machen muss, ist zuzuhören – ohne sich zu verteidigen. Er oder sie muss wahrnehmen, was beim anderen ausgelöst wurde und Anteil daran nehmen.“
Fremdgehen verzeihen: Die große Chance auf den Neuanfang?
Paare, die sich über die Jahre „verloren“ haben, die falsch gestritten oder wenig miteinander geredet haben, haben nach einer Krise die Chance auf einen Neuanfang. Eine gute Freundin von mir wurde betrogen und hat sich nicht getrennt. Ihr Freund hatte sich fremdverliebt, eine kurze Affäre angefangen und diese wieder beendet. Sie hat ihm das Fremdgehen verzeihen können, weil er bereit war, mit ihr zusammen den Betrug aufzuarbeiten.
In der Paartherapie haben sie die Gründe für den Betrug besprochen und gelernt, offen und ehrlich miteinander zu kommunizieren. Heute sagt sie, sind sie sich tatsächlich näher als vor dem Seitensprung. Auch viele der Paare, die zu Aino Simon gekommen sind, um Fremdgehen verzeihen zu lernen, stellten irgendwann fest, dass der Seitensprung das Beste gewesen sei, was ihnen hätte passieren können. Ich hoffe, dass meine Freundin das in ein, zwei Jahren auch so sieht.
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