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„Ich wollte leben!“ – wmn im Interview zu Hilfe bei Essstörungen

Interview, Teil 2/2: Ein ehemaliger Magersucht-Patient & eine ehemalige Bulimie-Patientin sprechen mit uns über Hilfe bei Essstörungen.

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Auch im Herbst & Winter ist UV-Schutz wichtig. Foto: Tania Cervian via www.imago-images.de /

Im ersten Teil dieses Interviews haben uns die ehemalige Bulimie-Patientin Lena (27)* und Tim (24)*, der wegen Magersucht in Behandlung war, von ihren persönlichen Ursachen für die Essstörungen berichtet.

Heute geht es ihnen gut; sie haben gelernt, mit ihren Krankheiten zu leben. Das wäre aus eigener Kraft kaum zu schaffen gewesen. Hilfe bei Esstörungen ist elementar, um aus der Abwärtsspirale herauszukommen. Welche Wege es gibt und ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit der Therapie und Klinikaufenthalten erzählen uns Lena und Tim im zweiten Teil unseres Interviews.

Interview: Über Hilfe bei Essstörungen

wmn: Tim, letztes Mal hast du erzählt, dass du bereits so stark untergewichtig warst, dass du in eine Klinik eingewiesen wurdest. Wie lief das ab?

Tim: Ich hatte mir einige Kliniken angeschaut und dann ein Vorstellungsgespräch. Wegen der Dringlichkeit in meinem Fall wurde ich trotz der durchschnittlichen Wartezeit von drei Monaten sofort aufgenommen. Ich blieb sieben Monate dort.

Die ersten drei Monate war ich in der geschlossenen Klinik, danach hatte ich begleitete Spaziergänge draußen. Diese Freiheiten waren immer an das Gewicht geknüpft. Anfangs habe ich noch heimlich Sport auf meinem Zimmer gemacht, das war eigentlich verboten. 

Es gab einen strengen Essensplan, ich durfte nicht selbst portionieren. Natürlich dachte ich oft, das sei zu viel Essen, aber gleichzeitig war es eine riesige Erleichterung, die Verantwortung für das, was ich esse, abzugeben.

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Spaziergänge sind ein erster Schritt in Richtung Normalität im Klinikalltag.(Photo: Tania Cervian via www.imago-images.de)

wmn: Und bei dir, Lena?

Lena: Ich hatte selbst entschieden in eine Klinik zu gehen. Dort hatte ich einen tollen Psychologen in der Verhaltenstherapie. Er hat meine Angst vor dem Zunehmen verstanden und ich hab ihm bald so vertraut, dass ich mir von ihm sagen ließ, wie viel ich essen könne, ohne zuzunehmen. 

Tatsächlich habe ich auch nicht zugenommen, obwohl ich langsam wieder normale Lebensmittel gegessen habe wie Reis und Nudeln. Irgendwann konnte ich ganze Portionen essen. Wie Tim hat mich total erleichtert, die Verantwortung abzugeben. 

In der Verhaltenstherapie wurden mir Werkzeuge an die Hand gegeben, was ich bei Suchtdruck tun kann, also bei dem Drang mich zu übergeben. Zum Beispiel habe ich aufgeschrieben, was mich entspannt. Allein Kaffee trinken zu gehen hat immer gut funktioniert.

Parallel hatte ich mit meinen Eltern eine Familientherapie, was mir total wichtig war. Denn hier konnte ich meinem Vater erklären, was an seinem Verhalten meine Krankheit mitgefördert hat, ohne ihm Vorwürfe zu machen.

Auch mussten meine Eltern darauf sensibilisiert werden, dass im Alltag keine unüberlegten Kommentare fallen, die mich triggern könnten. Das hat uns als Familie total weiter gebracht und wir können alle viel reflektierter mit dem Thema umgehen. 

Nach sechs Wochen bin ich entlassen worden.

Hile Essstörungen, Familienessen
Dank der gemeinsamen Therapie kann Lena heute wieder zusammen mit ihrer Famile essen.(Photo: pexels-august-de-richelieu-)

wmn: Wie war euer Klinikalltag?

Tim: In der Klinik waren ca. 30 Leute, von denen nur vier Magersucht hatten. Es war sehr familiär dort. Ich war in einer Gruppentherapie als einziger Magersüchtiger.

Lena: Bei mir waren in der Gruppentherapie PatientInnen mit Bulimie und Magersucht. In der Klinik waren aber noch viele andere Krankheiten vertreten: Angststörungen, Depressionen usw. Mir tat es auch gut, dass ich mit einer Patientin auf dem Zimmer war, die keine Essstörung hatte. Die Nachtkontrollen waren natürlich sehr ungewohnt.

Tim: Die hatten wir auch. Die ersten zwei oder drei Wochen hatte ich auch Besuchsverbot. 

Lena: Bei mir war jedes Wochenende jemand da. Ein großes Erfolgserlebnis war, als ich im Kurort mit meinen Freunden einen Eisbecher gegessen hab. Daran erinnere ich mich heute noch, wie gut sich das angefühlt hat. Natürlich hatte ich auch da noch den Gedanken an das Abendessen und ob das nicht alles etwas viel sei.

Und ich war jeden Abend schwimmen. Das durfte ich, weil ich kein Untergewicht hatte. Ich hab in der Klinik irgendwann aufgehört Kalorien zu zählen. Wir mussten leider  jeden Morgen zum Wiegen gehen. Das war mir eher unangenehm. 

Tim: Wir auch. Ich durfte sogar eine Zeit lang mein Gewicht nicht sehen. 

wmn: Wie ging es euch nach der Entlassung?

Lena: Anfangs hatte ich große Angst, diesen “Safe Space” zu verlassen. Es war ein harter Prozess in der Zeit danach. Wenn es mir mal nicht gut ging, war meine Bewältigungsstrategie sofort wieder, nicht mehr zu essen.

Ich war noch ein Jahr nach der Klinik in ambulanter Therapie, was gut und wichtig war. Heute verknüpfe ich Probleme und Emotionen nicht mehr oder nur noch wenig mit Essen. 

Ich wollte unbedingt gesund werden, ich wollte leben.

Lena

Sport konnte ich lange Zeit nicht machen, weil es für mich nur im Zusammenhang mit Abnehmen denkbar war. Vor einiger Zeit habe ich dann Bouldern entdeckt und konnte erfahren, dass Sport auch Spaß machen kann und ich mich nicht dazu zwingen muss. 

Tim: Mir wurde in und nach der Klinik ein Medikament mit dem Wirkstoff Mirtazapin verschrieben. Das ist ein Antidepressivum und ist bekannt dafür, dass es Gewichtszunahme fördert. Deshalb habe ich auch nach dem Klinikaufenthalt immer weiter zugenommen. 

Irgendwann habe dann in der Klinik angerufen, was ich machen soll. Die meinten, ich solle es weiter nehmen. Als ich fast wieder übergewichtig war, habe ich es selbstständig abgesetzt. Danach hat sich mein Gewicht eingepegelt.

Hilfe bei Essstörungen
Nach einiger Zeit kehrt auch die körperliche Kraft zurück.(Photo: pexels-snapwire)

wmn: Wie geht ihr heute mit dem Thema Essen um?

Lena: Ich beschäftige mich nicht mehr so viel mit Essen wie früher, aber es ist noch immer ein präsentes Thema. Ich würde nicht sagen, dass ich geheilt bin und ich glaube, so etwas gibt es auch gar nicht bei dem Krankheitsbild. 

Mein Essverhalten ist ziemlich normal, aber ich mach mir immer noch viele Gedanken, wie ich aussehe und ob ich zu dick bin. Manchmal vermisse ich die Disziplin, die ich damals hatte. Dass ich es damals geschafft hab, nur so wenig zu essen. Heute gebe ich meinem Hungergefühl nach.

Tim: Ich wünsche mich auch manchmal in die Zeit zurück, weil ich keine Lust mehr auf Abnehmen habe. Und damals war ich ja dünn. Und mit dem Wissen von heute, wie ich gesund leben kann, könnte ich das dann kombinieren. Aber das ist natürlich auch keine gesunde Einstellung…

wmn: Wofür seid ihr heute dankbar?

Tim: Mein Arzt hat sich sehr gut um mich gekümmert. Und meine Familie natürlich. Es tut mir sehr leid, dass ich ihnen solche Sorgen bereitet habe. Und meine Schwester tut mir leid, weil sich alles nur um mich gedreht hat.

Lena: So geht es mir auch. Mein Bruder hatte sicherlich eigene Probleme, die er für mich zurückgestellt hat. 

Tim: Damit muss man erst einmal umgehen können. Ich denke noch heute bei Streit mit meiner Mutter, wie viel sie für mich durchgemacht hat und gebe dann schneller nach. Meine Mutter sagt auch oft, dass wir als Familie in der Zeit zusammengerückt sind.

Lena: Mir hat auch mein Freund sehr geholfen während des Genesungsprozesses. Es hilft einfach, nicht allein zu sein und bei uns kommt noch hinzu, dass wir beide nicht gesund waren und er aufgrund seiner Krankheit das Abi nicht wie geplant machen konnte. So haben wir es zusammen ein Jahr später nachgeholt. 

Ich hab mich auch mit einem Mädchen mit Magersucht getroffen. Es hat mir geholfen zu wissen, dass ich nicht total verrückt bin, sondern dass es auch anderen so geht.

Tim: Ich habe mich vor dem Klinikaufenthalt ab und zu mit einer Freundin meiner Schwester ausgetauscht, die auch essgestört war und in einer Tagesklinik behandelt wurde.

Das war ganz nett, es hat mir aber nicht so viel gebracht. Ansonsten hatte ich so zwei, drei Freunde, mit denen ich ganz offen darüber sprechen konnte. Das hat auf jeden Fall geholfen.

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Freundschaften können eine große Hilfe während der Therapie sein.(Photo: pexels-thoma-boehi)

wmn: Hatte die Zeit der Krankheit und Therapie auch etwas Gutes?

Lena: Was ich aus der ganzen Sache mitgenommen hab, ist Selbstreflexion. Man profitiert ja von der psychologischen Betreuung und von dem Handwerkszeug, das einem in der Therapie mitgegeben wurde. 

Tim: Genau, Selbstreflexion und Empathie sind Dinge, die man in so einer Lage echt lernt.

Lena: Ich muss ehrlich sagen, dass ich darauf bezogen manchmal sogar ganz froh bin, diese Erfahrung gemacht zu haben, weil ich schon stärker daraus hervor gegangen bin. Ich habe seit dem weniger Vorurteile und versuche immer, mich in andere Menschen hineinzuversetzen und aufzupassen, was ich wie sage.

Tim: Mir ist auch aufgefallen, wie viele Situationen mich heute triggern. Wenn ich meine alten Freunde treffe und die reden wie sie immer geredet haben, tut mir das oft nicht gut. In der Klinik hast du Verhaltensregeln und No-Go-Themen.

Lena: Das ist wie ein Safe Space. Aber danach wirst du in die Realität entlassen und da gibt es diese Tabus einfach nicht mehr. Da gibt es viele Trigger-Situationen, z.B. wenn über übergewichtige Menschen gelästert wird. Da bin ich seit der Krankheit extrem empfindlich und weise die Leute dann auch drauf hin.

Tim: Man hinterfragt einfach, warum der Mensch in dieser Situation ist, wie geht es ihm damit und wie oft wird er doof angeguckt?

Lena: Die Gesellschaft, aber vor allem Ärzte, müssten mehr sensibilisiert werden auf das Thema. So viele Leute verstehen die Lebenswelt von Menschen mit psychischen Krankheiten gar nicht, egal ob es um Depressionen oder Essstörungen geht.

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Eine Essstörung kann einen auch viel über sich selbst lehren.(Photo: pexels-vlada-karpovich)

wmn: Wie geht es euch heute?

Lena: Heute geht es mir sehr gut. Die Gedanken ans Übergeben kommen selten, in sehr extremen Situationen, noch zurück, aber ich kann sie kontrollieren, selbst wenn es mir schlecht geht. 

Ich würde mich niemals mehr übergeben, da bin ich mir sicher. Und ich werde mich nie wieder wiegen, die Waage ist mein größter Feind. Ich will mein Glück nicht von einer Zahl abhängig machen.

Tim: Ich wiege mich schon noch ab und zu. Und ich bin auch noch am Abnehmen. Wenn die Gewichtszunahme, wie bei mir mit dem Medikament, künstlich derart in die Höhe gepusht wird, fällt man beim Abnehmen schnell wieder in alte Verhaltensmuster zurück. 

Was sich verändert hat, ist, dass ich nicht mehr auf alles verzichten will. Das habe ich so lange getan und darauf habe ich keine Lust mehr. Ich kann Essen wieder genießen.

Hilfe bei Essstörungen: Du bist nicht allein

Heute leben Lena und Tim ganz gut mit ihrer Krankheit. Sie wissen, dass man bei Essstörungen nie von einer finalen Heilung sprechen kann. Sie müssen stets auf sich Acht geben und verhindern, dass sie in alte Muster zurückfallen. Auch Trigger im Alltag sind oft schmerzhaft und für Außenstehende kaum erkennbar.

Lena und Tim sind heute noch hier, weil sie den Schritt getan haben und sich Hilfe bei Essstörungen gesucht haben. Wenn auch du das Gefühl hast, deine Körperwahrnehmung und dein Essverhalten entgleiten dir, sprich mit Vertrauten und suche dir unbedingt professionelle Hilfe. 

Wenn du nicht weißt, an wen du dich wenden sollst, findest du auf der Seite Selfapy alle Informationen, die du brauchst. Bei der Telefonseelsorge kannst du anonym über deine Probleme sprechen und dir Ratschläge für die nächsten Schritte geben lassen. 

Gibt es vielleicht jemanden, um den du dir sorgen machst? Oder dieser jemand bist du selbst? An diesen 5 Merkmalen erkennst du eine beginnende Magersucht. Und wenn dir wegen Corona manchmal alles einfach zu viel wird, geben wir dir hier Tipps zum Achtsamkeitstraining.

Zu gestresst? Unsere Story verrät es dir.

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