Als ich Anfang des Jahres am Dry January teilnahm und mich vermehrt mit dem Thema Abstinenz beschäftigte, stieß ich auf die YouTube-Videos von Nathalie Stüben. Sieht man sie in ihren Videos breit grinsen, würde man nie auf die Idee kommen, dass sie einst ein Alkoholproblem hatte. Tatsächlich lebt sie aber genau aus diesem Grund seit nun mehr als fünf Jahren nüchtern und klärt über das Thema Alkohol(-Sucht) auf. Mich hat diese Lebensgeschichte derart beeindruckt, dass ich gar nicht anders konnte als sie zu unserer weekly heroine zu küren.
Jede Woche verleihen wir einer Frau, die uns inspiriert und empowert, den Titel unserer wöchentlichen Heldin. Nathalie tut genau das, indem sie mit ihrem Thema Tabus bricht und das Bild korrigiert, welches wir in der Gesellschaft von Alkoholabhängigkeit haben. Wie sich das anhört, liest du im Interview mit ihr!
Nathalie Stüben – kurz & knapp
- Nathalie Stüben wurde 1985 geboren und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie schrieb und fotografierte für die Süddeutsche Zeitung, die dpa und arbeitete zuletzt für den Bayrischen Rundfunk.
- Im Jahr 2019 startete sie ihren Podcast „Ohne Alkohol mit Nathalie“, in dem sie eigene Erfahrungen ihrer Alkoholsucht teilt und andere Betroffene zu Wort kommen lässt.
- Seit 2021 betreibt sie auch einen gleichnamigen YouTube-Kanal, auf dem sie Aufklärungsarbeit leistet.
- 2021 erschien ihr Buch „Ohne Alkohol. Die beste Entscheidung meines Lebens. Erkenntnisse, die ich gern früher gehabt hätte“, welches eine Mischung aus Lebensgeschichte und Aufklärungswerk ist.
- Zudem bietet sie eigene Abstinenzkurse an, welche dabei helfen sollen, ein nüchternes Leben zu führen – und das als Gewinn zu erleben, nicht als Verzicht.
- Sie lebt mit ihrer Familie in Rosenheim.
Wir konnten mit Nathalie in einem Telefoninterview unter anderem darüber sprechen, wie sie es geschafft hat, nüchtern zu werden und warum sie sich heute nicht als Alkoholikerin betiteln würde…
„Was wir uns da an künstlicher Entspannung erkaufen, das rächt sich.“
wmn: Auf YouTube und auch in deinem Buch erklärst du, dass man nicht erst ein Problem mit Alkohol hat, wenn man sich morgens Wodka ins Müsli kippt. Ab wann sollte man den eigenen Konsum überdenken?
Nathalie Stüben: Ein erster Indikator dafür, dass Alkohol kein Genussmittel mehr ist, sondern als Droge eingesetzt wird, ist, wenn wir ihn trinken, um zu verändern, wie wir denken und fühlen. Das heißt natürlich nicht automatisch, dass alle, die das tun, ein Alkoholproblem haben, aber dann ist man schon weg vom Genuss. Wenn wir zum Beispiel trinken, um Stress abzubauen (vermeintlich) oder um uns nach einem anstrengenden Tag zu belohnen oder um zu vergessen oder um uns nicht einsam fühlen zu müssen, dann sind das rote Flaggen.
wmn: Ich glaube, da sprichst du sehr viele Menschen mit an, die glauben, sie würden sich durch Alkohol den Stress nehmen…
Nathalie Stüben: Und das ist ein großer Trugschluss. Alkohol lindert Stress nicht. Er sorgt zwar im ersten Moment dafür, dass wir uns entspannter fühlen, aber was wir uns da an künstlicher Entspannung erkaufen, das rächt sich. Wenn wir am nächsten Morgen aufwachen, fühlen wir uns noch gehetzter und gestresster. Wir bringen das dann gar nicht mit dem Alkoholkonsum in Verbindung, aber eigentlich ist genau das oft eine Folge davon. Das ist sowieso etwas, das wir beim Alkohol total unterschätzen. Dass er nicht nur körperlich negativ reinknallt, sondern auch psychisch.
„Das war nackte Sucht, in der ich steckte“
wmn: Warum hast du dich vor über fünf Jahren dazu entschieden, auf Alkohol zu verzichten?
Nathalie Stüben: Ich war alkoholabhängig und dabei, mein Leben, meine Gesundheit und meine Beziehungen komplett vor die Wand zu fahren. Es hat zwar mit Ach und Krach nach außen hin so gewirkt, als würde ich ein schönes, erfolgreiches und glückliches Leben führen, aber dem war nicht so. Innerlich war ich dabei zu sterben.
Ich habe so viel Energie damit verschwendet, Alkohol krampfhaft in mein Leben zu integrieren und ich bin immer wieder daran gescheitert. Egal, welche Trinkregel ich aufgestellt habe, ich konnte sie nicht einhalten. In den letzten Monaten meiner Alkoholsucht hatte ich das Gefühl, dass bald etwas ganz Schlimmes passiert. Dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es knallt. Das hatte dann schon lange eine andere Dynamik, als wenn ich mir abends ein Glas Wein eingieße, um mich zu belohnen. Das war nackte Sucht, in der ich steckte und mir wurde klar, dass ich so nicht weiterleben kann.
„Wichtig für mich war, meinen Kopf darauf zu trainieren, den Gewinn zu sehen, nicht den Verzicht.“
wmn: Wie schwer ist es dir in der ersten Zeit gefallen, auf Alkohol zu verzichten und was hat dir geholfen, dranzubleiben?
Nathalie Stüben: Es ist mir leichter gefallen, als ich dachte. Natürlich war es kein Zuckerschlecken. Manches war hart und ich hatte einige Momente, in denen ich unsicher war, ob ich das schaffe, aber insgesamt ging es mir mit diesem Entschluss sehr schnell sehr gut. Mein Leben hat sich radikal verbessert. Ich hatte dann eher Angst, dass ich all das, was ich schon erreicht habe, wieder aufs Spiel setze. Dass ich irgendwann anfange, mit Gedanken wie: „Ach, vielleicht doch mal wieder ein Glas?“, und mich davon wieder reinreißen lasse.
Aber ich habe von vornherein darauf geachtet, mich mit guten Strategien und Techniken auszustatten. Habe gemerkt, was mir hilft, diese Cravings, also diese Momente, in denen man ein krasses Verlangen hat, zu überwinden. Und was mir dabei hilft, mich zu stabilisieren. Und ganz wichtig für mich war, meinen Kopf darauf zu trainieren, den Gewinn zu sehen, nicht den Verzicht.
„Ich lag teilweise schon um 17, 18 Uhr im Bett“
wmn: Hast du ein Beispiel für eine deiner Strategien, wie man einem Craving widerstehen kann?
Nathalie Stüben: Eine Sache, die mir geholfen hat, war abends einfach früh ins Bett zu gehen. Ich weiß noch, dass ich manchmal nach Hause gekommen bin, in meinem möblierten Zimmer stand und mich fragte, was Menschen eigentlich machen, wenn sie von der Arbeit kommen (lacht).
Buch lesen, Film schauen, erschien mir alles absurd. Diese Abende waren so schwierig für mich. Ich bin dann einfach schlafen gegangen und lag teilweise schon um 17, 18 Uhr im Bett. Dann habe ich 12 Stunden geschlafen, bin wach geworden und morgens war alles wieder gut. Es war kein Verlangen da und ich habe das Gefühl gefeiert, dass ich einen weiteren Tag geschafft habe.
Was am Anfang auch hilft, ist, Risikosituationen zu meiden. Ich bin am Anfang zum Beispiel nicht mehr mit Freundinnen zum Italiener gegangen, weil ich da früher immer getrunken habe.
„Wenn ich jetzt aufhöre zu trinken, dann muss ich mich ein Leben lang Alkoholikerin nennen.“
wmn: Du bezeichnest dich selbst nicht als „Alkoholikern“. Warum nicht?
Nathalie Stüben: Für mich war dieser Begriff wie ein rotes Tuch. Die letzten Monate meiner Sucht wusste ich, dass ich alkoholabhängig bin. Ich wusste auch, dass die einzige Möglichkeit, da herauszukommen, die sein würde, ganz aufzuhören zu trinken. Ich habe das aber nicht gemacht.
Und ein Grund war der, dass ich dachte: „Wenn ich jetzt aufhöre zu trinken, dann muss ich mich ein Leben lang Alkoholikerin nennen.“ Und das fühlte sich für mich an wie ein Todesurteil. Ich hatte solche Angst vor diesem Begriff, dass ich noch tiefer reingerutscht bin – nur wegen eines Wortes, das muss man sich mal vorstellen.
„Hi my name is Holly and I‘m not an alcoholic“
Als ich bereits nüchtern war, habe ich den Text „Hi my name is Holly and I‘m not an alcoholic“ gelesen von Holly Withaker, einer Sobriety Aktivistin aus den USA. Hier beschreibt sie Gründe, warum sie sich nicht mehr Alkoholikerin nennt. Zum Beispiel den hier: Wenn man aufhört zu koksen, nennt man sich doch auch nicht Kokaholiker.
Dieser Text war für mich ein Meilenstein. Ich habe verstanden, dass ich mich nicht ein Leben lang so nennen muss. Das hat alles verändert. Und von da an habe ich meine Abstinenz so gestaltet, dass ich mich damit auch sprachlich richtig wohlfühle.
Was vielleicht auch noch ganz interessant ist: Wenn die Diagnosekriterien der WHO nicht mehr zutreffen, wirst du auch nicht mehr als alkoholabhängig diagnostiziert. Du bist dann nicht mehr offiziell krank. Dieses ein Leben lang Alkoholiker bleiben, geht auf die Anonymen Alkoholiker zurück – und das hat sich in unseren Köpfen erstaunlich hartnäckig festgesetzt.
Meine Sicht ist: Ich werde nie den Respekt davor verlieren, was Alkohol in meinem Kopf angerichtet hat und ich würde nie auf die Idee kommen, nochmal ein Glas zu trinken. Aber Alkohol bestimmt schon lange nicht mehr, wer ich bin. Und ich bin kerngesund.
„Diesem Gefängnis entkommen zu sein, fühlt sich für mich nach Freiheit an.“
wmn: In deinem Podcast sagst du am Ende einer jeden Folge, dass der Verzicht auf Alkohol Freiheit bedeutet. Kannst du das mal kurz erklären?
Nathalie Stüben: Wenn Alkohol zum Problem geworden ist, geht wahnsinnig viel Lebenszeit flöten, unglaublich viel Energie und geistige Kapazität. Wann trinke ich? Wie? Mit wem? Wie trinke ich so, dass meine Arbeitgeber es nicht mitbekommen? Kann ich heute schon etwas früher trinken? Wie bringe ich die Flaschen so weg, dass meine Nachbarn nicht blöd gucken?
Und wieso ist Alkohol immer wichtiger als die Dinge, die mir eigentlich wichtig sind? Wieso schaffe ich es nicht, meine Talente auszuleben? Anstatt dein Leben zu leben, beschäftigt sich dein Kopf mit sowas. Diesem Gefängnis entkommen zu sein, fühlt sich für mich nach Freiheit an.
„Turn your wounds into wisdom“
wmn: Man könnte fast sagen, Alkohol ist das Beste und das Schlimmste, das dir je passiert ist. Immerhin hast du Stärke daraus gezogen und hilfst heute anderen Menschen mit deinen Programmen. Würdest du das so unterschreiben?
Nathalie Stüben: Dass es das Beste in meinem Leben ist, soweit würde ich nicht gehen. Ich weiß nicht, ob ich mich nochmal für meine Alkoholabhängigkeit entscheiden würde (lacht). Wahrscheinlich nicht. Aber du hast recht, ich habe aus diesem ganzen Mist etwas Schönes gemacht. Es schenkt mir Sinn, mit meiner Arbeit Leben zu verbessern. Und diese Form von Arbeit hat mir definitiv auch dabei geholfen, über all die ‚verlorenen‘ Jahre hinwegzukommen. Frei nach dem, was Oprah Winfrey mal gesagt hat: „Turn your wounds into wisdom”.
wmn: Was erwartet einen denn in deinem Programm?
Nathalie Stüben: Ich arbeite sowohl in meinem Programm „Die ersten 30 Tage ohne Alkohol“ als auch in „Abstinenz stabilisieren“ mit einer Kombination aus Wissen und Handeln. Ich vermittle Hintergrundwissen, kombiniere das mit meinen eigenen Erfahrungen und leite daraus Übungen ab.
Im 30-Tage-Programm vermittle ich so zum Beispiel Strategien, wie man mit einem Craving umgehen kann, wie man sich auf das erste nüchterne Fest vorbereitet und wie man es hinbekommt, alte Gedankenmuster zu durchbrechen. Man lernt ganz also zum einen, wie man nüchtern bleiben kann. Und zum anderen arbeiten wir daran, dass man seine Aufmerksamkeit darauf richtet, was man durch die Nüchternheit gewinnt.
„Ich bin nicht per se gegen die AA. Es war nur einfach nicht mein Weg.“
wmn: Die erste Anlaufstelle in Deutschland sind die Anonymen Alkoholiker oder andere Suchtgruppen. Provokant gefragt: Sollte man dein Programm den AA vorziehen – zumal du sie in deinem Buch auch kritisierst?
Nathalie Stüben: Ich kritisiere sie, aber ich sage auch, was sie gut machen. Ich bin nicht per se gegen die AA. Es war nur einfach nicht mein Weg. Mein Programm versteht sich als zusätzliches Angebot für Menschen, die mit den traditionellen Angeboten nicht so viel anfangen können. Das schließt einander aber auch nicht zwangsläufig aus. Ich habe in meinem Programm auch Teilnehmer, die zusätzlich eine AA-Gruppe besuchen oder eine Therapie machen. Ich setze mich dafür ein, dass Menschen erkennen, was ihnen hilft, wo sie sich gut fühlen und wie sie stabiler und sicherer werden können mit ihrer Abstinenz.
„Der Bedarf an einem neuen niederschwelligen Angebot ist und war riesengroß.“
wmn: Was sagst du zu kritischen Stimmen, welche die Kosten deines Programms bemängeln?
Nathalie Stüben: Ich habe das auf meiner Website ausführlich erklärt. Als ich meinen Podcast „Ohne Alkohol mit Nathalie“ und mein 30-Tage-Programm gestartet habe, sind die von Tag eins durch die Decke gegangen. Der Bedarf an einem neuen niederschwelligen Angebot ist und war riesengroß. Und wenn man sich die Zahlen anschaut, leuchtet das auch ein. Gerade mal 10 % der Alkoholabhängigen landen in Therapie. Und hier sprechen wir noch nicht von den Menschen im Graubereich, sondern von den diagnostizierten Abhängigen.
Also ja, der Bedarf ist riesig. Und ich nehme Geld für meine Programme, weil da Arbeit drinsteckt. Und weil es Kosten verursacht, so etwas anzubieten. Mittlerweile beschäftige ich fünf Mitarbeiter:innen und diverse Dienstleister. Es ist mein Beruf geworden.
wmn: Was möchtest du Menschen, die erkannt haben, dass sie weniger oder gar nichts mehr trinken sollten mit auf den Weg geben wollen?
Nathalie Stüben: Fang an.
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