Ich bin ein Sensibelchen. Schon immer gewesen. Als Kind konnte ich nächtelang nicht schlafen, weil ich den Tod von Bambis Mutter nicht verkraftet habe. Heute liege ich bei Sturm wach, weil mir die Vögel draußen leidtun. Einmal habe ich 45 Minuten lang verzweifelt versucht, einen Käfer zu befreien, der in Spinnweben eingewickelt war. Mein Freund sitzt in solchen Situationen daneben und schüttelt den Kopf. Wenn ich emotional belastet bin, überfordert ihn das. Und ich bin oft emotional belastet.
„Ist doch nicht so schlimm!“ Pragmatismus & emotionale Belastung
Mein Freund ist einer von den Menschen, die dir in einer emotionalen Ausnahmesituation beschwichtigend zureden, als würden sie mit einem Kleinkind sprechen. Mein allerliebster Hasssatz ist in diesem Kontext: „Ach komm. Ist doch nicht so schlimm.“
AM ARSCH NICHT SO SCHLIMM! Wenn dieser Käfer auf meinem Fensterbrett zugrunde geht, weil meine Pinzette nicht fein genug ist, ist das schlimm. Bambis Mutter ist tot, das ist verdammt schlimm! Und wenn seit Tagen die Nachrichten voller brennender Städte und weinender Menschen sind, dann ist das das Schlimmste. An solchen Tagen kann es passieren, dass ich unmittelbar in Tränen ausbreche. So etwas nennt man emotionale Belastung. Das ist okay. Was aber, wenn man damit allein bleibt?
Warum Sensibelchen manchmal doch einen Pragmatiker brauchen
In solchen Momenten der emotionalen Belastung macht mich der ewige Pragmatismus meines Freundes wahnsinnig. „Du kannst doch jetzt eh nichts daran ändern“, sagt er, wenn ich eine Absage für meinen Traumjob bekomme. „Ich finde, du übertreibst“, wenn ich sauer auf meine Freundin bin, weil sie mich zum hundertsten Mal versetzt. „Sie wird schon ihre Gründe haben.“ Ja genau, sie hasst mich und ich bin ihr egal. Allen bin ich egal, deshalb werde ich niemals einen Job finden und hundertprozentig auf der Straße landen. Bei den Vögeln, die im Sturm aus ihren Nestern fallen. Aber ist dann auch egal, bald ist eh Atomkrieg.
Damit wären wir bei dem Grund angelangt, warum der Pragmatismus meines Freundes manchmal auch Goldwert ist. Jemand wie ich, der verhältnismäßig schnell in eine Situation emotionaler Belastung oder auch Überlastung gerät, braucht einen Gegenpol. Mein Freund unterscheidet zwischen lösbaren Problemen und unlösbaren Problemen sowie zwischen großen Problemen und Problemen, die eigentlich keine sind. Bei mir hingegen gibts nur Probleme. Ich bin da nicht wählerisch.
Aktionismus hilft gegen emotionale Belastung
Es wäre natürlich schrecklich, wäre ich in Momenten einer ernsthaften emotionalen Belastung gänzlich allein. Wenn ein Familienmitglied stirbt, hat das eine andere Qualität als der Käfer auf dem Fensterbrett. Aber wäre er mehr wie ich und würde sich in ähnlicher Intensität plötzlich aufsprudelnden (negativen) Gefühlen hingeben, gäben wir ein ziemlich deprimierendes Paar ab. So bin ich zwar im ersten Moment sauer, wenn er mir wieder mit „Ist doch nicht so schlimm“ kommt. Aber im nächsten weiß ich: Es ist wirklich nicht so schlimm.
Und wenn es mal wirklich schlimm ist, hilft Aktionismus. Wenn ich mich vor lauter Weltschmerz im Bett verkriechen will, scheucht er mich aus dem Haus, um Sachspenden für Kriegsgeflüchtete einzukaufen. Das macht die Welt zwar nur geringfügig besser, aber es hilft. Und es hilft, jemanden an der Seite zu haben, den die Situation genau so belastet, der aber einen anderen Umgang damit findet. Ich, das Sensibelchen, bin bestens vertraut mit meinen Gefühlen. Er, der Pragmatiker, verhindert, dass ich unter ihnen begraben werde.
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