Was hat es mit diesem Begriff des Female Gaze auf sich, der unsere Sicht auf die Welt revolutionieren soll, aber den Meisten von uns noch ein totales Rätsel ist? Ich werde ihn in diesem Artikel näher beschreiben. Dabei mache ich vor allem eines: beschreiben, was er nicht ist.
Grundlegend versteht man den Female Gaze als die weibliche Perspektive in der Kunst. Da dies aber Vieles und auch subjektiv sein kann, lassen sich nur selten konkrete Beispiele in der Kunst zu bringen. Ansätze bilden dabei nicht nur Filme von weiblichen Regisseuren, Bücher von Jane Austen oder starke weibliche Figuren, sondern auch vereinzelte Videos auf TikTok. Weshalb du auf TikTok jedoch nicht hören solltest, erfährst du hier.
Was ist der Female Gaze und warum solltest du dabei nicht auf TikTok hören?
„Der Male Gaze regiert den Mainstream“
Um den Female Gaze etwas besser zu verstehen, braucht es eine Erklärung seines Bezugswortes, dem Male Gaze.
Der Begriff stammt aus der feministischen Filmtheorie, geprägt von der britischen Filmkritikerin Laura Mulvey in ihrem Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema. Darin beschreibt sie den Male Gaze als die im Film vorherrschende männliche Sichtweise auf die Welt und das weibliche Geschlecht. Die Frau stellt das Objekt männlicher Begierde dar, sie ist passiv und er aktiv. Da wir in der realen Welt noch immer unter patriarchalen Strukturen leben, reflektiert der Male Gaze die omnipräsente männliche Sichtweise, die den kulturellen Mainstream prägt.
Mulvey teilt den Male Gaze in drei Formen ein:
- Der Blick des Regisseurs durch die Kamera
2. Der Blick des Protagonisten auf das Geschehen
3. Der Blick des Zuschauers, der den Film sieht
Um noch deutlicher zu verstehen, was der Male Gaze ist, lohnt es sich, unseren Artikel über dieses Bild zu lesen.
Diese Teilung kann auf alle anderen Arten der Kunst übertragen werden, denn eines bleibt immer gleich: Es stellt dar, wie der Mann die Frau sieht. Das hängt häufig damit zusammen, dass die Frau als sexuelles Lustobjekt des Mannes dargestellt wird. Wir als Zuschauer:innen sehen das Endprodukt und nehmen diese männliche Betrachtung an.
Filme, die häufig mit dem Male Gaze assoziiert werden;
- Topgun (Regie: Tony Scott)
- Iron Man (Regie: Jon Favreau)
- James Bond 007: Spectre (Regie: Sam Mendes)
Was ist der Female Gaze?
Bis heute zerreißt sich die Kunstwelt das Maul darüber, was der Female Gaze eigentlich bedeutet. Ableiten tut es sich von dem Begriff Male Gaze, bedeuten tut er jedoch mehr.
Aus den Augen des Mannes wird die Frau kaum als die Hauptfigur dargestellt, sondern vielmehr als das Accessoire und Lustobjekt des Mannes. Der Female Gaze soll dies bekämpfen, dafür versucht man, die Welt in der Kunst aus einer weiblichen Sicht darzustellen. Diese weibliche Sicht finden wir nicht nur in den Protagonistinnen, sondern auch in Filmen, bei denen eine Frau Regie führt. Wir als Zuschauer:innen betrachten die Welt aus den Augen weiblicher Figuren und blicken dabei in deren tiefsten Gefühle und Bedürfnisse. Es entsteht ein Dreiergestell zwischen Zuschauerin, Regisseurin und Protagonistin.
Filme und Serien, die häufig mit Female Gaze assoziiert werden:
- Little Women (Regie: Greta Gerwig)
- Fleabag (Autorin und Hauptdarstellerin: Phoebe Waller-Bridge)
- Pride and Prejudice (Regie: Joe Wright, Adaption von Jane Austen)
Der Female Gaze nach Joey Soloway
Den Begriff prägte vor allem Regisseurin und Autorin Joey Soloway, die den Female Gaze im amerikanischen TV-Format Tiff erklärt. Das Video dazu findest du hier.
Ihre Definition des Female Gaze läuft unter drei Aspekten:
1. Die Sicht in das Gefühlsleben der Frau: Diese Sicht bietet den Gegenpart zu einer äußeren Betrachtung. Dabei werde deutlich, was die Frau denkt und fühlt, ebenso, wie sie es ausdrückt.
2. Die Beurteilung der Frau darüber, das Objekt des Male Gaze zu sein: Es gibt eine vielschichtige Sicht darauf, was man von dir als Frau erwartet und wie du von der männlichen Welt porträtiert wirst. Der erste und zweite Aspekt stehen sich damit gegenüber, Gefühle einer Frau vs. Erwartungen an eine Frau.
3. Sicht auf den Male Gaze: Soloway beschreibt dies als „Returning the Gaze“. In anderen Worten bedeutet das so viel wie, dass die Frau sieht, wie der Mann auf sie blickt. Es soll jedoch den Male Gaze nicht umdrehen und den Mann objektifizieren. Darin liegt nämlich der Fehler der Kurzvideoplattform TikTok, auf der viele User:innen eine irreführende Erklärung des Female Gaze geben.
Was macht TikTok bei der Beschreibung des Female Gaze falsch?
“Wie Männer wirklich aussehen sollen“
Momentan kursiert auf TikTok der Trend „What men think the Female Gaze is vs. What it actually is“. Dieser zeigt im ersten Part meistens als konventionell attraktiv geltende Schauspieler mit freiem Oberkörper, wie zum Beispiel Chris Hemsworth in Thor. Ein zweiter Part bildet wiederum weniger als attraktiv geltende Männerfiguren wie Thors Gegenspieler Loki ab. Damit möchte man zeigen, dass Frauen nicht nur einen Prototyp des männlichen Mannes attraktiv finden. Das ist durchaus richtig.
Das Problem dabei ist jedoch, dass damit nur ein weiterer Fokus auf das männliche Geschlecht als Äußeres gelegt wird, statt den Female Gaze tiefgehender zu fassen. Bei diesen Darstellungen des Female Gaze stehen äußerliche Merkmale und Attraktivität im Vordergrund. Doch das reicht bei weitem nicht.
Male Gaze vs. Female Gaze: Hier hat Tiktok weit gefehlt
Der Female Gaze ist zwar als eine Reaktion auf den Male Gaze zu sehen, aber damit ist nicht der Male Gaze in seiner Form, nur mit dem weiblichen Geschlecht gemeint: Der Mann soll nicht als das Objekt der Begierde gesehen werden, noch soll der Fokus auf Äußerlichkeiten überhaupt liegen. Damit haben TikTok User schon zwei wichtige Merkmale des Female Gaze verfehlt.
Der Female Gaze ist als wissenschaftlicher Begriff komplexer und individueller eingestuft als, was einzelne Frauen auf TikTok an Männern attraktiv finden. Wohlgemerkt geht es hier auch nur um die Sicht auf Männer, der Blick lesbischer oder bisexueller Frauen wird hierbei außer Acht gelassen.
Der wesentliche Fehler bei TikTok liegt darin, dass der Female Gaze damit sehr oberflächlich wirkt, nämlich nur als äußerliche Betrachtung des Mannes. Genau dagegen spricht Soloway, die sagt, dass der Female Gaze Gefühle und Empfindungen einer Frau behandelt und weniger ihre Beziehung zum Mann. Während sie im Male Gaze nur das Accessoire des Mannes bildet, soll sie im Female Gaze im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Betrachtet man die Welt durch ihre Augen, so finden sich wesentlich mehr und diversere Blickpunkte. Beispielsweise ihre persönlichen Lebensziele, ihre Ambitionen und Weltsichten prägen ihre Denkweise mindestens genauso wie ihre äußeren Eindrücke über Männer.
„Wie will ich für wen aussehen?“
Ein weiterer Trend von TikTok-Videos richtet sich auf folgendes Thema: Wie sich die Frau für den Male Gaze anziehen würde und wie für den Female Gaze. Dabei zeigt eine Userin beim Male Gaze ein eher aufreizendes Outfit, was die weiblichen Rundungen betont, und beim Female Gaze ein lockeren und sportlichen Look. Sie bestimmen damit eine bestimmte männliche Perspektive auf das weibliche Äußere und eine weibliche: Der Mann möchte die Frau aufreizend und weiblich sehen, die Frau möchte sie weniger weiblich konnotiert sehen.
Fokus auf Äußerlichkeiten
Was außer Acht gelassen wird, ist, dass es sich wieder ausschließlich um das Äußere dreht. Wo doch gerade der Female Gaze einen tiefergehenden Anspruch hat und weder Frau noch Mann auf sein äußeres Erscheinungsbild reduzieren möchte. Female Gaze bedeutet nach seiner ursprünglichen Definition nicht „ich schaue dich von außen an“, sondern „ich blicke in dich hinein und sehe, was in dir vorgeht“. Zwar versuchen hier Frauen darzustellen, was Frauen sehen wollen. Aber durch den Fokus auf das Äußere wird dem Female Gaze eine genauso objektifizierende Haltung zugeschrieben wie dem Male Gaze.
Male Gaze vs. Female Gaze – und mehr nicht?
TikTok macht beim Female Gaze mit diesem Trend ebenfalls etwas falsch, indem er ihn mit dem Male Gaze gleichstellt und damit die binäre Geschlechterordnung verstärkt. Dabei soll der Female Gaze eigentlich nicht nur die Sicht einer Frau darstellen, sondern auch alles einschließen, was nicht die heteronormative Sicht eines „cis-Mannes“ ist. Dazu gehört beispielsweise auch der Trans-Gaze, der Queer-Gaze oder der Nonbinary-Gaze.
Schneiden wir die weibliche Sicht nur auf die heterosexuelle cis-Frau zu und unterscheiden diese vom cis-Mann nur durch ihr biologisches Geschlecht, so verfehlen wir den Female Gaze. Der weibliche Blick ist vor allem divers, und das nicht nur in Hinblick auf Innen- und Außensicht, sondern auch auf die behandelte Person.
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Warum du auf TikTok nicht beim Female Gaze hören solltest
Zusammengefasst macht sich die Kritik an TikTok daran fest, dass es ein so umfangreich diskutierter Begriff wie der Female Gaze auf fast banale Aspekte wie das Aussehen komprimiert. Der Female Gaze möchte in sich das objektifizierende Konzept des Male Gaze kritisch beäugen, TikTok dagegen behält dieses Konzept einfach bei. User:innen geben in den Videos eine oberflächliche Sichtweise als den allumfassenden weiblichen Blick aus und nähern sich daher dem Male Gaze statt ihn zu kritisieren. Den Female Gaze soll man nicht als Pendant zum Male Gaze verstehen, sondern als eine Antwort. Daher solltest du, wenn du genau wissen möchtest, was der Female Gaze bedeutet, dich besser auf seriösen Websiten wie zum Beispiel www.thefemalegaze.com informieren statt auf TikTok.