Wie wichtig ist das Gendern eigentlich? Diese kontroverse Frage lässt viele Gemüter erhitzen. In diesem Artikel stellen wir eine neue Studie über das Gendern aus den USA vor, die einen Beweis dafür liefert, dass das Gendern für nicht CIS-Männer wichtig ist.
Zudem wollen wir klären, wie wir in Deutschland mit dem Gendern umgehen können und von einem Denken und einer Sprache Abstand nehmen, die Menschen systematisch ausschließen oder sogar beleidigen.
Frauen sind auch Menschen: Darum ist das Gendern so wichtig
Studie über das Gendern: Eine Person ist ein Mann
Eine Studie aus den USA aus dem März 2022 hat ergeben, dass die englischen Wörter person (Einzahl) und people (Mehrzahl) eher männlich als weiblich assoziiert werden. Gibt man also jemanden auf der Straße den Befehl, sich eine „person“ vorzustellen, denken die meisten Menschen eher an eine männliche Person.
Die Studie ist in dem Magazin Science Advance erschienen und ist das Ergebnis einer AI-Analyse aus über 630 Milliarden Worten, die im Internet genutzt wurden. April Bailey, Leiterin der Analyse und Mitarbeiterin im Department of Psychology der Universität von New Hampshire erklärt, dass dies die erste Untersuchung gewesen sei, die beweise, dass selbst genderneutrale Wörter voreingenommen männlich interpretiert werden.
Von Englisch zu Deutsch: Deswegen verstehen viele das Gendern nicht
Vielen deutschen Muttersprachler:innen ist nicht bewusst, dass auch unsere Sprache wie das Englische einst viel „neutraler“ war. Es gab also nicht immer einen sprachlichen Unterschied zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen. Das sogenannte generische Maskulinum hat es lange Zeit (vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) in der deutschen Sprache gegeben. In der Grammatik war festgeschrieben, dass ein Lehrer weiblich und männlich sein konnte. Die „weibliche“ Endung wurde damals für nicht-generische Entitäten, sogenannte besondere Fälle genutzt.
Die Sprache verändert sich
Heute gibt es im Deutschen für die menschlichen Entitäten einen weiblichen und einen männlichen Begriff: Studentinnen und Studenten. Hinzukommen genderneutrale Begriffe wie Studierende oder auch Student:innen.
In der Theorie weiß jeder Mensch, dass bei einer Rede, die mit „Liebe Studenten…“ beginnt, auch alle weiblichen Personen und Trans-Personen mitgemeint sind. Theoretisch. Aber wie sieht das in der Praxis aus? Leider können wir hier bei weitem nicht das Gleiche behaupten. Die Studie der Universität von New York hat ergeben, dass selbst genderneutrale Begriffe dazu tendieren, männlich gelesen zu werden.
Streiten über das Gendern: Argumente statt Schwachsinn?
Das Gendern ist einer der größten Sprach-Streitpunkte in unserer Gesellschaft. Das liegt meiner Meinung nicht daran, dass das Thema so viel wichtiger ist als andere Themen. Es bietet lediglich so viel Angriffsfläche, dass jeder Mensch dazu eine Meinung zu haben scheint. Die gegenüberliegenden Meinungen in der Genderdebatte: Während die einen dafür kämpfen, dass FLINTA eigene Bezeichnungen und Endungen bekommen, sind die anderen sich sicher, dass FLINTA mit den bestehenden Wörtern bereits „mitgemeint“ sind.
Was sind FLINTA nochmal? FLINTA sind alle diejenigen, die keine Cis-Männer sind: Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen.
Sind wir wirklich mitgemeint?
Viele FLINTA haben das Gefühl, dass sie in Artikeln, in Werbeformaten, in politischen Reden oder in Romanen nicht angesprochen werden. Ist in einem Zeitungsartikel beispielsweise von einem Ärztemangel die Rede, dann würden sich viele FLINTA die Wortwahl Ärzt:innenmangel wünschen. Das zeigt beispielsweise, dass auch an Ärzt:innen werden können.
Doch ist es wirklich wahr, dass Frauen und andere Geschlechter sich ausgegrenzt fühlen, wenn sie nicht explizit genannt werden? Sicherlich nicht immer. Es gibt genug Gegnerinnen und Gegner des Genderns. Im Jahr 2021 lag die Zahl der Gegnerinnen des Genderns in Deutschland bei 59 %, so ergab es eine Umfrage von Infratest.
Beispiele: Hier sind Frauen und andere Geschlechter nicht dabei
Das Print-Magazin Sprachnachrichten vom Januar 2022 hat sogar eine ganze Ausgabe herausgebracht, die die negativen Seiten des Genderns beleuchtet. Ich habe mir die Ausgabe genau angeschaut und will mit einigen Missverständnissen aufklären, die die Sprachgegner:innen verbreiten.
Ein plakatives Beispiel sind die Texte des Publizisten Oliver Baer, der als Autor für Sprachnachrichten deutlich macht, dass das Gendern weder den Frauen, noch anderen Menschen etwas nütze. Die einzigen Profiteur:innen dieser „Propaganda“ seien die Gleichstellungsbeauftragten, die damit ihren Willen durchboxen können. Oliver Baer ist auch der Meinung, dass die Umbenennung des Südseekönigs in „Pipi Langstrumpf“ kontraproduktiv gewesen sei.
Ein Gedankenspiel: Nutze nur das Maskulinum
Ich will ein weiteres Beispiel aus der Anti-Gender-Ecke anbringen, das in ähnlicher Form den meisten Vertretenden von inklusiver Sprache immer wieder vorkommt. Es ist meiner Meinung nach sehr wichtig, diese Argumente zu hören und zu entkräften, wo immer es geht. Nur so können wir als Gesellschaft schließlich und endlich auf einen grünen Zweig kommen. Michael Reichel, Professor für klassische Philologie und Graezistik an der HHU in Düsseldorf stellt im Magazin Sprachnachrichten folgende rhetorische Frage:
„Glaubt jemand ernsthaft, dass eine Rentnerin beim Anblick der Werbung für einen Seniorenpasss denkt: ‚Wie schade, dass nur Männer über 65 kostenlos Bus fahren dürfen, wir Frauen aber nicht.“ Reichel zieht hier das Gendern meiner Ansicht nach ins Lächerliche. Die Antwort auf die Frage: Nein, wahrscheinlich denkt keine Seniorin, dass sie bezahlen muss, während ihr Nachbar kostenlos mit dem Bus fahren darf.
Ich möchte aber, dass Menschen, die Reichels Argumentation unterstützen, kurz die Augen schließen und sich das Folgende vorstellen:
- einen Senioren
- einen Freund
- einen Menschen
Habt ihr dabei an Frauen oder an Männer gedacht?
Gendern ist wichtig: Nochmal zurück zur Studie
Die Studie der Universität von New York, die im Magazin Science Advance erschien, löste Warnungen seitens der Forschenden aus. Dass die Wörter „person“ und „people“ zum großen Teil mit Männern in Verbindung gebracht werden, ergebe eine schiefe Vorstellung der Bevölkerung. Gerade in der Politik könne das zu Problemen führen. Politiker:innen seien vor einer voreingenommenen Meinung nicht ausgeschlossen. Sie wollen Veränderungen für Menschen bzw. „people“ erreichen. Dabei denken sie jedoch mehr an Männer und weniger an Frauen und andere Geschlechter.
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