Body Neutrality bedeutet, sich von dem Druck freizumachen, den eigenen Körper lieben zu müssen. Es bedeutet, den Fokus vom Äußeren zu nehmen. Der Körper darf einfach ein Körper sein. Eine, die sich mit diesem Thema intensiv auseinandersetzt, ist die Buchautorin, Kolumnistin und Content Creatorin Jaqueline Scheiber. Im Interview erklärt sie, warum sie den Begriff Body Neutrality für sie persönlich treffender findet, als Body Positivity, und welche Erfahrungen sie mit Bodyshaming gemacht hat.
Jaqueline Scheiber kurz & knapp
- Geboren 1993 im Burgenland, lebt in Wien
- Unter dem Pseudonym minusgold teilt sie ihre Gedanken zu Themen wie Entwicklung und Selbstbildnis, psychische Gesundheit, aber auch Tod und Trauerbewältigung
- Im Januar 2023 erscheint ihr Buch „ungeschönt“ im Piper Verlag. Es ist ihr drittes Buch nach „Offenheit“ (2020) und „RENNEN WARTEN BLEIBEN“ (2022)
Jaqueline Scheiber über die Möglichkeiten und Grenzen von Body Neutrality
wmn: In den letzten Jahren ist das Infragestellen von Körpernormen immer mehr in den öffentlichen Diskurs gerückt. Warum ist es dir so wichtig, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen?
Jaqueline Scheiber: Mir ist es wichtig, über Körper und diverse Körper zu sprechen, weil ich das Gefühl habe, dass viele in meiner Generation und auch den Generationen davor nicht die Vielfalt an Körpern gesehen haben, die es wirklich gibt. Dadurch hat sich ein Bild eingeprägt, das auf nur ganz wenige Menschen zutrifft, das aber dazu führt, dass vor allem Frauen beim Aufwachsen das Gefühl haben, dass irgendwas mit ihnen nicht stimmt.
Indem ich gesagt habe, ich möchte einfach, dass mein Körper gar nicht mehr so ein großes Thema ist und dass ich auch nicht irgendetwas fühlen muss, möchte ich anderen zeigen, dass ein solcher Umgang möglich ist. Denn es gibt eine Bandbreite an Körpern, die wir repräsentieren und nicht nur den einen Körper, den man verfolgen muss.
wmn: Welche Bedeutung hat Body Neutrality für dich persönlich und warum ist der Begriff besser als Body Positivity?
Jaqueline Scheiber: Ich finde Body Neutrality für mich treffender. Body Positivity war für mich die „Einstiegsdroge“ im positiven Sinn in der Auseinandersetzung mit Körpern. Body Positivity sagt: Liebe deinen Körper und finde dich toll und feiere deinen Körper. Und damit habe ich einen sanfteren Umgang mit mir gefunden.
Ich habe aber auch gemerkt, dass das nicht so ganz stimmig für mich ist. Ich stehe nicht jeden Tag auf und finde mich super und finde mich attraktiv und finde mich toll und möchte mich feiern. Sondern ich stehe manchmal auch auf und denke mir: Also das geht mir auf die Nerven und da hängt irgendein Hautfetzen, diese Narbe finde ich aber nicht schön. Und das kann auch okay sein.
Body Neutrality hat nicht den Anspruch, immer alles ins Positive zu wenden. Sondern Body Neutrality sagt, es ist einfach so und an manchen Tagen kannst du es schmücken und nach außen tragen und an anderen Tagen ist es halt einfach auch nur existent. Punkt.
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Fotografie kann helfen, den Körper zu verstehen
wmn: Du offenbarst dich deinen Follower:innen nicht nur in Form von Worten – du zeigst auch deinen Körper auf Bildern. Fällt dir das leicht?
Jaqueline Scheiber: Ich habe natürlich schon eine Ader der Selbstdarstellung und ich habe das immer sehr spannend gefunden, mich in Fotografien darzustellen. Das hat ganz ursprünglich damit begonnen, dass ich sehr viele Gewichtsschwankungen durchlaufen habe in meinem Leben. Ich hatte von Kleidergröße 36/38 bis 48, also unterschiedlichste Körper. Und ich habe eine Körperdysmorphie entwickelt. Das bedeutet, wenn man nicht mehr versteht, wie man eigentlich aussieht und keine Körperwahrnehmung für sich selbst hat.
Ich stehe nicht jeden Tag auf und finde mich attraktiv. […] Und das kann auch okay sein.
Jaqueline Scheiber
Mir hat das Fotografieren von mir selbst geholfen, zu verstehen, wie ich gerade aussehe. Das hat mir irgendwie Anhaltspunkte gegeben. Und irgendwann hat das natürlich einen ästhetischen Anspruch bekommen und ich habe mir gedacht, ich hätte Freude daran, das zu inszenieren.
Insofern gibt es schon Punkte, die mich Überwindung kosten. Ich habe jetzt das erste Mal ein halbnacktes Shooting gemacht. Aber es hat auch großen Spaß gemacht zu sehen, wie wohl man sich in seinem Körper fühlen kann.
wmn: Gab es auch schon unangemessene Reaktionen wie Bodyshaming und wenn ja, wie gehst du damit um?
Jaqueline Scheiber: Es gibt schon immer wieder unangemessene Reaktionen. Lustigerweise weniger auf meinen Körper als auf meine Zähne oder andere Dinge, die die Menschen sehr stören und die nicht normschön sind. Aber ich habe auch schon gehört, warum man mit diesem Bauch nicht bauchfrei herumlaufen soll. Aber ich muss sagen, dass das wirklich ganz gut an mir abprallt.
Es gibt ein großes Bedürfnis nach Offenheit
wmn: Du gehst sehr offen mit sogenannten Tabuthemen um, sprichst z. B. über Tod und Trauer und teilst auch private Erlebnisse. Wie reagieren die Menschen auf diese Offenheit?
Jaqueline Scheiber: Die Reaktionen sind ganz unterschiedlich. Tatsächlich merke ich jedes Mal, wenn ich an so ein sehr vulnerables Thema herantrete, dass es ein großes Bedürfnis danach gibt. Es ist oft wie ein Schwamm, der sich dann aufsaugt und ich bekomme extrem viel Input. Die Menschen haben das Bedürfnis, ihre eigenen, persönlichen Geschichten mit mir zu teilen. Viele sagen danke dafür, dass Worte und Raum dafür geschaffen werden. Und manche irritiert es natürlich auch.
Vor allem früher, in meinem privaten Umfeld, als ich das noch ein bisschen strenger getrennt habe: Meine öffentliche Person als Pseudonym minusgold und meine private Person als Studentin, Sozialarbeiterin, was auch immer. Da hat es schon auch oft Irritationen gegeben: Warum muss man das im öffentlichen Raum verhandeln?
Mehrheitlich ist es aber so, dass ich jedes Mal merke, wenn man den Finger in die Wunde steckt, gibt es einfach so einen Bedarf und so eine Sehnsucht danach, dass diese Themen nicht hinter vorgehaltener Hand verhandelt werden sollten. Und das finde ich ganz schön.
Es reicht nicht aus, von anderen schön gefunden zu werden
wmn: Gerade in seinen 20ern beschäftigt man sich viel mit seinem Äußeren. Du bist jetzt 29. Gibt es ein Learning, das du im Laufe des Älterwerdens gemacht hast oder etwas, das du deinem 20-jährigen Ich raten würdest?
Jaqueline Scheiber: Ich habe bei diesem Shooting, als ich in Unterwäsche fotografiert wurde und mir danach die Fotos angesehen habe, gedacht: Krass, ich hätte nie gedacht, dass ich mich wohl und sogar schön fühlen kann, wie ich bin, und dass ich mich so sicher und angekommen fühlen kann in diesem Körper, mit all seinen vermeintlichen Makeln. Ich habe ein bisschen diese Gelassenheit für Scham und diese Ruhe und Neutralität verinnerlicht. Das gelingt mir auch nicht jeden Tag und auch nicht immer.
Aber an ganz vielen Punkten denke ich mir: Ist es wirklich mein Zweck in dieser Welt, attraktiv zu sein? Muss ich ständig darüber nachdenken, dass ich ansehnlich für andere Personen bin? Und diese Frage lässt sich in 95 Prozent der Fälle mit Nein beantworten. Und dann kann ich getrost damit leben, zu sagen: Vielleicht finden mich nicht alle Menschen schön. Aber ich habe total Spaß daran, mich so anzuziehen, wie es mir gefällt, mich manchmal zu schminken, verrückte Sachen mit meinem Haar zu machen.
Das ist ein Rat, den ich meinem 20-jährigen Ich geben würde. Ich würde einfach sagen: Der Punkt kommt, an dem du diese Gelassenheit erreicht hast und an dem du verstehst, dass es nicht ausreicht, von anderen schön gefunden zu werden.
Eine Körperform sagt nichts über den Gesundheitszustand aus
wmn: Dünnsein gilt in vielen Branchen noch immer als normschön, dabei weiß man, dass beispielsweise Models oftmals nicht nur körperlich, sondern vor allem mental sehr krank sind. Body Neutrality soll genau dieses Problem bekämpfen.
Nun argumentieren manche Leute damit, dass auch dicke Körper nicht gesund seien. Findest du, Body Neutrality darf so weit gehen, auch ungesunde Körper zuzulassen, um damit eine gesunde Mental Health zu schaffen?
Jaqueline Scheiber: Das Thema Gesundheit ist eines, an dem wir uns gerne aufhängen. Und was wir dabei vergessen, wenn wir Gesundheit in Verbindung mit Körpern verhandeln, ist, dass Gesundheit eine private Angelegenheit ist und wir niemandem Gesundheit schulden. Also, solange wir noch nicht so ein Gesundheitssystem wie in Amerika haben, wo wir für einzelne Gesundheitszustände mehr bezahlen müssen, was dann auch von einem Sozialsystem getragen wird, bin ich der Meinung, ich bin niemandem einen gesunden Lebensstil schuldig.
Es ist nicht gesagt, dass eine Person, die unter dem normschönen Deckmantel ein Normalgewicht hat, gesund ist. Zum Beispiel, wenn die Person Alkohol oder Drogen konsumiert oder raucht oder sich nicht gut ernährt. Man kann anhand der Körperform überhaupt nicht ablesen, ob eine Person gesund ist oder nicht. Und außerdem geht es niemanden etwas an, ob ich gesund bin oder nicht.
Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so sicher und angekommen fühlen kann in diesem Körper, mit all seinen vermeintlichen Makeln.
Jaqueline Scheiber
Ja, ich glaube, Body Neutrality muss auch damit leben können, dass es ungesunde Körper gibt. Weil diese Idee davon, dass jeder gesund leben muss, knüpft ja nur daran an, dass jeder leistungsfähig bleiben soll und jeder diesem kapitalistischen System am besten bis 80 beiwohnen soll. Ich finde, es ist ein rebellischer Akt zu sagen: Nein, ich nutze diese Zeit, die ich auf dieser Erde hier habe. Und wenn das bedeutet, dass ich jeden Tag Burger essen möchte, dann mache ich das.
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Body Neutrality heißt, den Körper, seine Fähigkeiten und Bedürfnisse zu akzeptieren
wmn: In deiner Kolumne „Sprachgewitter“ hast du vor Kurzem darüber geschrieben, dass dir der Sportunterricht in der Schule für lange Zeit die Freude an der Bewegung genommen hat. Du schreibst, körperliche Betätigung „war das, was mich von einem angesehenen Körper trennte, die unüberwindbare Barriere zu Teilhabe und Wertschätzung.“
Wie hat sich dein Verhältnis zum Sport verändert und glaubst du, es ist möglich, gerade durch körperliche Aktivität mehr Akzeptanz für den eigenen Körper zu finden?
Jaqueline Scheiber: Das mit dem Sportunterricht ist etwas, was ganz vielen Menschen bekannt ist. Und ich finde es absurd, weil wir in der Schule an eine Form von körperlicher Tätigkeit herangeführt werden, die alles andere als Spaß macht. Außer man ist ein sehr athletischer Mensch oder wird von zu Hause in diese Richtung gefördert.
Mein Weg mit Sport war tatsächlich ein sehr steiniger Weg. Weil ich es immer wieder aus den falschen Gründen versucht habe. Jedes Mal, wenn ich wieder irgendeinen Kurs besucht habe oder Sport gemacht habe, habe ich mir gedacht, ich muss das machen, um einen bestimmten Körper zu erreichen. Oder ich muss das machen, weil alle meine Studienkolleginnen dreimal die Woche Sport machen und das anscheinend normal ist. Ich habe es nie aus dem Grund gemacht, einfach zu sehen, was mir und meinem Körper guttut.
Ist es wirklich mein Zweck in dieser Welt, attraktiv und ansehnlich für andere zu sein?
Jaqueline Scheiber
Ich schreibe in dieser Kolumne auch, dass ich vor zwei Jahren angefangen habe, den Kraftsport zu entdecken. Und tatsächlich habe ich gemerkt, dass es für mich nichts Schlimmeres gibt, als Ausdauersport zu machen. Ich hasse es, aus der Puste zu sein und ich hasse es, zu schwitzen. Ich gehe gerne vier Stunden wandern und spazieren. Aber ich will mich nicht ständig an körperlichen Grenzen bringen, weil das löst in mir ein unangenehmes Gefühl aus.
Und dann habe ich aber gemerkt, dass ich ganz andere Sachen mit meinem Körper machen kann. Ich kann die Hälfte meines Körpergewichts mit meinen Armen heben. Das sind zwar immer nur kurze Einheiten von 10, 15, 20 Minuten. Aber sie geben mir trotzdem Kraft und sie geben mir trotzdem das Gefühl, selbstwirksam zu sein.
Das ist für mich sozusagen der Turning Point gewesen, in dem ich gemerkt habe: Okay, ich kann einen Zugang zu Sport finden. Nämlich dann, wenn ich ihn mache, weil ich etwas mit meinem Körper bewirken will. Und wenn ich Ursache und Wirkung von mir selbst in dieser Welt verstärken möchte und nicht um so oder so auszusehen.
Es braucht mehr diverse Körperbilder in der Öffentlichkeit
wmn: Auch heute gibt es noch verletzende Blicke in Umkleidekabinen von Sportstudios usw. Was muss sich, deiner Meinung nach, verändern, damit wir Körper neutral betrachten, nicht mehr bewerten oder uns vergleichen?
Jaqueline Scheiber: Ich glaube, es muss viel passieren, damit sich der Blick auf eine Norm ändert. In erster Linie ist es wichtig, dass immer mehr diverse Körperbilder in die öffentliche Wahrnehmung geraten. Wir sprechen von Sehgewohnheiten. Das heißt, das, womit wir ständig konfrontiert sind, nehmen wir als Norm wahr und denken, das ist normal.
Wir sprechen von Sehgewohnheiten.
Jaqueline Scheiber
Je mehr Unterschiede wir in Sehgewohnheiten einführen können und das heißt: Je öfter wir Körper sehen, die wir bisher nicht auf Werbeplakaten, in Magazinen, im Fernsehen, in den sozialen Medien gesehen haben, desto eher wird sich auch in unserem Unterbewusstsein eine Bandbreite und eine Vielfalt entwickeln können. Und desto eher können wir vielleicht uns auch von Urteilen und Bewertungen distanzieren.
Zum anderen glaube ich, dass wir bei ganz jungen Menschen anfangen müssen, deren Kompetenzen in Richtung Selbstregulation und Kommunikation und auch das Mitteilen von Gefühlen und von Gemütszuständen fördern müssen. Weil wir heute wissen, dass sowohl Menschen, die zu dünn sind, als auch Menschen, die mehrgewichtig sind, eine Essstörung haben können.
Und wir wissen, dass Essstörungen oft daher rühren, dass sie ein Kontrollzwang oder eine Strategie sind, Überforderung oder Trauma oder Depression bewältigen zu wollen. Und da dürfen wir nicht ständig nur über Essen sprechen. Sondern wir müssen darüber sprechen, wie wir es schaffen, dass Menschen ohne die Not aufwachsen, irgendwas über Essen regulieren zu müssen.
Die Hüllen fallen lassen
wmn: Im Januar erscheint dein neues Buch „ungeschönt“. Magst du uns eine kleine Vorschau geben, was die Leser:innen erwartet?
Jaqueline Scheiber: Da werde ich noch ein bisschen näher auf diese Tabuthemen eingehen, die ich hier angeschnitten habe. Ich habe vor zwei Jahren ein kurzes Essay geschrieben, das hieß „Offenheit“. Ein 120-seitiges Buch, in dem ich ein paar Dinge angeschnitten habe.
In „ungeschönt“ habe ich mir noch einmal ganz viel Zeit genommen, um mich wirklich sehr tief und auch teilweise ein bisschen wissenschaftlich mit den einzelnen Themen auseinander zu setzen. Und da werde ich über Trauer, über Klasse, über Feminismus, Körper, über psychische Gesundheit sprechen, über Freundschaft und Liebe. Der Plan war, einfach mal alle Hüllen fallen zu lassen und die Dinge genau unter die Lupe zu nehmen.