Was ist „Verrückt“ und was ist „Normal“? Diese Frage stelle ich mir häufig, wenn ich mich mal wieder dabei ertappe, wie ich ein Selbstgespräch führe oder vor dem Verlassen der Wohnung checken muss, ob der Herd aus ist. Wenn wir ehrlich sind, haben wir alle die ein oder andere liebenswerte Marotte oder verfolgen fragwürdige Routinen. Doch ab wann wird das eigentlich bedenklich? Wann wird ein Spleen zur ausgewachsenen Zwangsstörung? In diesem Artikel bekommst du Einblick in die Marotten unserer Redaktion und erfährst, ab wann etwas als zwanghaft gilt.
Der Weg vom Spleen zur Zwangsstörung
Was ist ein Spleen?
Ursprünglich bezeichnete der englische Begriff Spleen die Milz, die nach der Humoralpathologie (Vier-Säfte-Lehre) der Antike als Sitz des Gemüts galt. Einfach gesagt: Früher dachte man, dass die Milz der Ursprung diverser mentaler Erkrankungen war. So sollte sie beispielsweise ausschlaggebend bei Hypochondrie und Melancholie sein. Heute weiß man, dass sie allein dafür zuständig ist, die roten Blutkörperchen abzubauen und auch die Bedeutung des Wörtchens Spleen hat sich gewandelt.
Synonym werden auch die Begriffe Fimmel oder Marotte gebraucht. Allesamt werden sie umgangssprachlich genutzt und meinen eine kleine Schrulle, also eine sonderbare Idee. Meist ist der Begriff negativ besetzt– und das, obwohl keiner frei von dem ein oder anderen Spleen ist.
Wird der ein oder die andere gerade mit dem Kopf nicken und ist sich seiner oder ihrer Marotten durchaus bewusst sein, werden andere ihre Spleens nicht einmal mitbekommen. Doch diese mal mehr und mal weniger skurrilen Anwandlungen gehören zu unserer Persönlichkeit und darüber hinaus erfüllen sie sogar bestimmte Funktionen.
Welche Funktionen erfüllen Spleens?
Spleens sind nichts weiter als der Ausdruck nach Sicherheit und Kontrolle. Auch sind sie eine Frage der Persönlichkeit. Vor allem perfektionistische Menschen und solche, die eher ängstlich sind, neigen daher dazu, Spleens zu entwickeln. Und unter Stress können die sich verstärken. Das weiß auch Norbert Kathmann, der klinischer Psychologe an der Humboldt Universität zu Berlin ist.
Gegenüber WELT meint er, dass Marotten „hochautomatisierte Gewohnheiten“ sind. Daher bemerken viele sie auch gar nicht. Hinzu kommt, dass diese Fimmel vor allem dann auftreten, wenn man besonders unter Strom steht, also nervös oder angespannt ist. Zum Beispiel weil man eine Präsentation halten muss.
In solchen Stresssituationen kommt es vor, dass man sich in den Haaren zwirbelt oder vor Verlegenheit besonders viel giggelt. Ich für meinen Teil ertappe mich immer wieder beim Lippenkauen in besonders anspannenden Momenten. Laut dem Experten handelt es sich hierbei um völlig natürliche Übersprungshandlungen, die Stress im Körper abbauen sollen.
Übrigens: Welcher Spleen bei Stress auftritt, ist individuell. Doch mehr Stress bedeutet in der Regel auch, dass der Spleen häufiger zutage tritt.
Rituale helfen, Ordnung in das Chaos des Lebens zu bringen
Neben situationsabhängigen und unfreiwilligen Marotten gibt es aber auch ganz bewusste Rituale, die eine nach bestimmten Regeln ablaufende Handlung beschreiben. Jemand, der sich beispielsweise jeden Abend die Sachen für den kommenden Tag an die immer gleiche Stelle bereitlegt, verfolgt ein Ritual. Und auch Sportler:innen haben diverse Rituale. Bevor sie einen Wettkampf starten, küssen manche ihre Glücksbringer und andere drehen sich drei Mal im Kreis. Ich musste früher zum Beispiel den Ball immer drei Mal trippeln, bevor ich mit dem Volleyball-Match beginnen konnte.
Rituale mögen für Außenstehende ulkig wirken. Dabei sind sie verdammt wichtig. Denn sie geben Sicherheit, schaffen Selbstvertrauen und nehmen emotionale Last von den eigenen Schultern.
Diese liebevollen Marotten haben unsere Redakteur:innen
In der aktuellen Folge unseres Wein & Weiber-Podcasts spreche ich mit meiner Kollegin Mona über Spleens. Hier wird schnell klar: Wir haben mehr davon, als uns lieb ist. Aus Neugierde habe ich auch mal in unsere Redaktion reingehört. Und was die verraten, ist verdammt kurios, lustig und liebenswert zugleich.
Lisa, 26
Uff, da gibt es so einige. Zum Beispiel MUSS ich mir etwas wünschen, wenn ich auf die Uhr gucke und die 22:22 schlägt. Oder auf Holz klopfen, wenn ich von etwas spreche, dass auf keinen Fall passieren darf! Schlafe ich allein, also ohne meinen Partner in der Wohnung, muss ich abends außerdem durch jeden Raum der gehen, um sicherzustellen, dass ja kein:e Einbrecher:in da ist! Mein schlimmster Spleen ist aber eindeutig der, dass ich beim Verlassen des Hauses immer den Gedanken habe: Verdammt! Habe ich den Herd ausgemacht?
Franzi, 27
Ich habe lange Theater gespielt und da gibt es ja die lustigsten Aberglauben. Ich bin zwar nicht davon überzeugt, dass der Auftritt dann schief geht, aber diese kleinen Traditionen machen einfach Spaß. Also wird immer zweimal über die Schulter gespuckt und auf “Viel Glück”!” darf nicht mit “Danke!” geantwortet werden.
Im normalen Leben habe ich solche Marotten nur, wenn es um das Einschlafen geht: Das kann ich nämlich nicht, wenn ich trockene Füße habe. Also steht immer eine Cremetube neben dem Bett.
Anika, 22
Seitdem ich einmal vergessen habe, den Schlüssel von innen aus dem Schloss zu ziehen, schaue ich jetzt mindestens dreimal nach, ob das Schloss von innen auch wirklich frei ist, bevor ich die Tür zufallen lassen. Wenn mir jemand eine Tablette gibt, antworte ich nicht mit “Danke”, weil das Medikament sonst nicht mehr wirkt. Außerdem muss ich, wenn ich alleine in der Wohnung schlafe, durch die gesamte Wohnung gehen, um zu überprüfen, dass ich auch wirklich alleine bin.
Anonym, 24
Meine Ticks waren seit dem Kindergarten mal mehr, mal weniger ausgeprägt. So einen richtigen Knacks hat mir das Notensystem in der Schule verpasst. Seitdem war es besonders wichtig, keine Straße mit 5 Schritten zu überqueren, da der Tag sonst eben nur “ungenügend” wird. Immerhin geht die Notenfolge nach der 6 einfach weiter. Die 7 ist eine 1, die 8 eine 2, und so weiter. Bei wirklich großen Zahlen habe ich einfach die Quersummen ausgerechnet. Natürlich glaube ich heute nicht mehr daran, aber manchmal erwische ich mich bei einem unbewusstem Zwischenschritt. Ich tippel also vor der Ampel, ohne es zu merken.
Lena, 19
Über die Jahre habe ich mir einige Marotten und Ticks angeeignet. Angefangen dabei, dass die Lautstärke vom Radio und Fernsehen immer eine gerade Zahl haben muss, darüber, dass ich immer einen Schluck Wasser und Lippenpflege vorm Einschlafen nehmen muss bis dahin, dass ich jeden Abend mein Zimmer kurz vorm Einschlafen abchecke, um sicherzugehen, dass kein:e Einbrecher:in drin ist.
Einige Marotten kommen und gehen recht plötzlich, andere habe ich seit vielen Jahren. Tatsächlich teile ich den Tick mit den geraden Zahlen bei der Lautstärke mit meiner Mama. Vielleicht bin ich also auch einfach genetisch vorbelastet *lacht*.
Wann wird etwas zur Zwangsstörung?
Aus liebevollen Marotten können allerdings auch ernst zu nehmende Zwangsstörungen erwachsen. Kathmann meint dazu: „Ob eine Marotte nur schrullige Eigenheit ist oder an der Grenze zur psychischen Störung, das hängt von der Dauer und dem Ausmaß der Marotte ab sowie von ihrer Kontrollierbarkeit.“
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Herald Hopf, meint, dass Zwänge und Zwangsstörungen vor allem dann bedenklich und krankhaft werden, sobald der Alltag durch sie beeinträchtigt wird. Wer also im Straßenverkehr derart auf seine Schritte achten muss, um keine Linie zu betreten oder dermaßen oft die Hände waschen muss, dass er zu jedem Termin zu spät kommt, handelt zwanghaft. Auch Schlafstörungen und allgemeines Leid können sich aufgrund der Zwangsstörung einstellen.
In einem auf Youtube hochgeladenen Fachvortrag berichtet Hopf von einem beispielhaften Fall, in dem ein Betroffener Stunden früher aufstehen musste, um aufgrund seiner zwanghaften Spleens rechtzeitig das Haus zu verlassen.
Zwangsstörungen können jeden treffen
Allgemein gilt: Hält das zwanghafte Verhalten über zwei Wochen an und entpuppt sich als aufdrängendes Gefühl, dem man nicht entfliehen kann, kann die Diagnose Zwangsstörung gestellt werden. In der Bevölkerung sind ungefähr zwei bis drei Prozent von diesem Krankheitsbild betroffen, wobei die Zahlen auch deutlich höher ausfallen können. Denn aus Scham geben viele die Erkrankung nicht zu erkennen.
Hopf erklärt in seinem Vortrag, dass es bei der Verteilung von Zwangsstörungen über die Bevölkerung hinweg keine Unterschiede im Geschlecht, der sozialen Herkunft oder der Kultur gibt: Sie können also jeden mit gleich hoher Wahrscheinlichkeit treffen. Meist treten erste Anzeichen dafür mit dem beginnenden 20. Lebensjahr auf, wobei Frauen psychische Krankheiten etwas später entwickeln.
Aus kleinen Spleens erwachsen Zwänge
Oft treten zunächst kleine Spleens zutage, die zunächst nur episodisch und zeitweise auftreten, die sich allerdings immer mehr steigern. Das Problem? Von allein verschwindet eine Zwangsstörung im Erwachsenenalter nicht. Doch je früher man sie behandeln lässt, desto eher sind sie heilbar.
Übrigens: Am häufigsten ist der Reinigungszwang wie das zwanghafte Putzen oder Händewaschen, danach folgen Kontrollhandlungen wie das Türabschließen oder Herd ausmachen und auch die Suche nach Mustern und Symmetrien, also zum Beispiel das Handeln nach Zahlen ist nicht selten. Eine Sonderform stellt der sogenannte Messi-Zwang dar, bei dem sich Betroffene nicht von Gegenständen trennen können und sie zwanghaft sammeln müssen.
Zwangsstörungen bedeuten, dass Marotten Überhand nehmen
Unsinnige Gedanken und ulkige Fimmel haben wir alle. Von Zwangsstörungen betroffen zu sein, bedeutet jedoch, dass diese Überhandnehmen und man sich nicht gegen die zwanghaften Handlungen und Gedanken erwehren kann. Man MUSS also beispielsweise die Hände waschen oder man MUSS noch mal nach oben, um nach dem Herd zu sehen.
Und diese Vorgänge steigern sich. Wer sich anfangs nur einmal einseifen und den nur einmal Herd ausstellen muss, muss es irgendwann immer häufiger tun. Betroffene sollten sich daher nicht auf diesen Teufelskreis einlassen und Hilfe in Form einer Psychotherapie suchen, die verlässlich Zwangsstörungen behandeln kann.
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