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Warum die Corona-Pandemie für Kleinkinder eine „normale“ Zeit ist

Für viele Kleinkinder verblasst die Erinnerung an eine Zeit vor dem Coronavirus immer mehr. Ist das Leben mit der Pandemie für sie inzwischen normal? Psychotherapeutin Dr. Dunja Voos gibt im Interview Aufschluss.

Für viele Kleinkinder ist ein Leben mit dem Coronavirus inzwischen Normalität.. © FamVeld/Shutterstock.com
Für viele Kleinkinder ist ein Leben mit dem Coronavirus inzwischen Normalität.. © FamVeld/Shutterstock.com

Seit rund einem Jahr kämpfen wir bereits gegen die Pandemie an. Viele Kleinkinder erinnern sich kaum noch an die Zeit, die vor Corona stattgefunden hat. Für sie ist es, als würden sie bereits ein Leben lang mit dem Virus leben. Psychotherapeutin Dr. med Dunja Voos, Verfasserin des Blogs „Medizin im Text“, verrät im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news, was aus psychischer Sicht derzeit in den Schützlingen vieler Eltern vorgeht und ob es eine „Generation Corona“ geben wird, die langfristig von den Folgen der Pandemie geprägt ist.

Viele Kleinkinder erinnern sich kaum noch an eine Zeit vor der Corona-Pandemie. Was hat das für Folgen?

Dr. med. Dunja Voos: Ich kenne eine Hebamme, die sagt immer: „Eure Kinder wissen nicht, dass sie im Jahr 2021 zur Welt kommen. Sie brauchen immer noch neun Monate, um im Mutterleib zu reifen, sie brauchen immer noch Eure Wärme, Eure Brust, Euren weichen Schoß und Eure Liebe. Für sie ist es wie seit tausenden von Jahren.“ Ich fand diesen Satz sehr klug. Wenn Babys und Kleinkinder Eltern haben, die auf ihre Bedürfnisse eingehen und sich um sie sorgen, dann spielen die Außenbedingungen zunächst eine untergeordnete Rolle.

Sind die Eltern jedoch selbst stärker in Bedrängnis geraten durch die Pandemie, werden auch die Kinder diese Not möglicherweise mitbekommen, woraus die verschiedensten Probleme wie z.B. eine erhöhte Ängstlichkeit oder eine depressive Stimmung entstehen können. Kleine Kinder halten jedoch die Art, wie sie aufwachsen, für normal. Erst wenn sie selbst alt genug sind, um über die Dinge ausreichend zu reflektieren, wird sich zeigen, was daraus entsteht.

In der ersten frühen Zeit mit den Eltern wird der Grundstein dafür gelegt, dass die Kleinen Vertrauen in sich und die Welt haben können. Fühlen sie sich geborgen, so werden sie auch die Außenwelt als natürlich erleben. Sie werden jedoch spüren, womit wir Erwachsenen beschäftigt sind – sie werden spüren, dass es für uns einerseits eine Ausnahmesituation ist und andererseits eine Situation, an die wir uns auch schon ein wenig angepasst haben. Dieses Lebensgefühl werden sie vielleicht mit aufnehmen und vielleicht ein inneres Gefühl von „Unstimmigkeit“ oder „Fragezeichen“ haben. Es kann möglicherweise das Grundgefühl entstehen, dass es da noch ein Problem zu lösen gibt. Das kann bei manchen zu einer resignativen Stimmung führen, bei anderen aber auch zu einer Art Aufbruchsstimmung und zu Kreativität.

Besonders interessant erscheint es mir, dass Kinder verschiedene Fantasien zu dem Wort „Corona“ entwickeln und oft auch damit etwas „Böses“ verbinden. Wobei dieser Virusname ja auch an einen Vornamen erinnert, sodass ich auch schon beobachtet habe, wie kleine Kinder mit Puppen oder Playmobil spielten und eine Figur dann den „bösen Corona“ nannten. Welche Folgen sich daraus ergeben, ist noch unklar, da diese neue Situation ja relativ einzigartig ist. Das Spielen mit wenigen Kindern, das Tragen von Masken, die Kommunikation via iPad und das Selbst-Testen fühlt sich für viele kleine Kinder anscheinend bereits natürlich an. Sie wachsen in die Situation hinein. Bei älteren Kindern beobachte ich häufig schon eine große Selbstverständlichkeit: Da werden Witze gemacht oder die Kinder weisen sich gegenseitig auf die Maske und erlaubte Besucherzahlen hin.

Müssen Eltern besorgt sein?

Voos: Psychische Gesundheit hängt sehr eng mit Beziehungen zusammen und wenn Eltern darum bemüht sind, eine gute Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen, dann glaube ich nicht, dass sie sich wegen der Pandemie-Situation Sorgen machen müssen. Natürlich bringen das enge Beieinandersein und vielleicht auch die Existenzsorgen vieler Eltern ganz besondere Probleme mit sich. Doch das Leben ist nie leicht – auch Scheidungen oder Erkrankungen in der Familie sind Stressfaktoren, die sich nicht verhindern lassen.

Eltern können nicht perfekt sein, aber den Kindern reicht es meistens schon, wenn sie sehen, dass sich die Eltern wirklich bemühen, gute Eltern zu sein. Wichtig ist immer das gemeinsame Gespräch. Es ist wichtig, dass Eltern verbalisieren, was in ihnen vorgeht und was in der Außenwelt passiert. Es ist ebenso wichtig, das mögliche Befinden des Kindes in Worte zu fassen. Wenn Eltern mit ihren Kindern im Gespräch bleiben, wann immer möglich für ausreichend Bewegung und Beziehung sorgen, dann glaube ich nicht, dass sich Eltern mehr Sorgen machen müssen als in „normalen Zeiten“.

Wie können Eltern ihren Kindern erklären, dass sie derzeit in einer Ausnahmesituation leben?

Voos: Ich denke, dass die meisten Eltern ihren Kindern davon erzählen, wie es vorher war und was passiert ist. Doch wir alle passen uns auch an – vieles wird normaler, ehe wir es selbst bemerken. Als ich das erste Mal am Baumarkt nach dem System „Click and Collect“ auf dem Parkplatz etwas abholte, kam es mir noch merkwürdig vor. Inzwischen empfinde ich diese Art des Einkaufens als angenehm. Es ist immer noch etwas Außergewöhnliches und doch fühlt es sich schon etwas gewohnter an.

So erscheinen vielleicht auch andere Situationen nach und nach weniger als Ausnahmesituation. Aber das ist mein Bild vom Alltagsleben in der Ausnahmesituation. Jeder Vater und jede Mutter hat vielleicht andere Empfindungen. Die Kinder bekommen die Unterhaltungen der Erwachsenen mit und damit schnappen sie auch die Atmosphäre der Ausnahmesituation auf. Sprechen, aber auch das Fantasieren, Malen und Spielen darüber sind mögliche Bausteine des Austausches im Alltag.

Sollten Eltern ihren Kindern verdeutlichen, dass es auch eine Zeit nach der Pandemie geben wird?

Voos: Wenn Kinder und/oder Eltern unter der Zeit leiden, dann kann man gemeinsam Pläne schmieden für „die Zeit danach“. Andererseits wissen wir nicht, was kommt und wie sich die Dinge weiterentwickeln. Sicher ist für mich, dass dies eine Zeit des Umbruchs ist und vieles neu gedacht und gemacht wird. Diese Zeit fordert die Kreativität vieler Menschen heraus und so kann man die Kinder auch an den eigenen Hoffnungen und Veränderungen teilhaben lassen.

Was macht es mit Kleinkindern, wenn sie Erwachsene außerhalb ihres Zuhauses fast nur mit Maske sehen?

Voos: In der Kindesentwicklung spielen die ersten Wochen und Monate nach der Geburt eine große Rolle. Hier kommuniziert in der Regel die Mutter am stärksten mit ihrem Säugling – und das zu Hause wohl meistens ohne die Maske. Der Säugling nimmt die Berührungen und die Stimme von Mutter und Vater ebenso auf wie die Mimik. Doch auch blinde Kinder entwickeln sich psychisch gesund, wenn ihnen mit Stimme und Berührung signalisiert wird: „Ich bin für Dich da.“

Ich wundere mich manchmal darüber, dass sich kleine Kinder über die Masken in den Gesichtern nicht mehr wundern. Wir stellen vielleicht fest, wie die Menschen bemüht sind, die Kommunikation mit einer stärker modulierten Stimme, mit einer klareren Körperbewegung und einer „übertriebenen“ Augen-Mimik zu unterstützen. Wir schenken uns alle auf eine gewisse Art „mehr“ Aufmerksamkeit, so mein Gefühl. Sicher gehen durch die Maske viele unwillkürlichen Gesichtsbewegungen als Information verloren, jedoch habe ich nicht den Eindruck, dass die Kinder dadurch allzu sehr verwirrt werden.

Wird es eine „Generation Corona“ geben, die langfristig von der Pandemie geprägt ist?

Voos: Ja, ich denke schon, dass sich in dieser Zeit sehr viel verändert, was auch langfristig Auswirkungen haben wird. Wie werden wir mit Berührungen in der Zukunft umgehen? Wird sich unsere Angst vor Keimen und Infektionen steigern oder sogar abmildern? Wird zwanghaftes Verhalten gefördert? Werden wir bewusster miteinander umgehen? Gerade ältere Kinder und Jugendliche leiden unter der Einsamkeit und darunter, ihre Peer-Group nicht so treffen zu können, wie es ihnen guttäte. Doch kleinere Kinder wachsen zurzeit mit den verminderten Kontakten auf und ich bin sehr gespannt, was sich daraus ergibt. Ich stelle mir vor, dass wir Menschen – ähnlich wie beim Körpergewicht – eine Art „Set Point“ haben, also eine Art von Vorstellung davon, wieviel Kontakt, Beziehung und Berührung wir brauchen. Ich denke, der Umgang mit diesen Bedürfnissen wird vielleicht bewusster werden als er es bisher war.

(eee/spot)

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