Unternehmerin Tijen Onaran (36) will die Wirtschaft diverser machen. Die gebürtige Karlsruherin kandidierte bereits als 20-Jährige für die FDP bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, arbeitete mehrere Jahre für Politiker und später in der Automobilindustrie. Heute leitet sie das Unternehmen „Global Digital Women“, das für mehr Diversität in der Arbeitswelt kämpft, und ist eines der prominentesten Gesichter für Gender Equality in Deutschland.
Ihr neuer Dokumentarfilm „Yes She Can – Frauen verändern die Welt“ (ab 1. Mai 2021 bei Amazon Prime Video zu sehen) zeigt Frauen, die den Status Quo herausfordern und für Chancengleichheit kämpfen. Im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news schildert Tijen Onaran, was in Deutschland passieren muss, um mehr Diversität zu schaffen und erklärt, warum Gendern so wichtig ist.
Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland?
Tijen Onaran: Um es auf den Punkt zu bringen: optimierungsbedürftig! Der Druck auf die Unternehmen wächst, in der öffentlichen Debatte ist das Thema auch immer präsenter. Dennoch höre ich noch allzu oft: Aber wir haben doch eine Frau im Team, in der Geschäftsführung, im Vorstand, das reicht doch! Vielfalt heißt aber nicht eine, Vielfalt heißt viele!
Der deutsche Perfektionismus steht uns auch im Bereich Geschlechtervielfalt im Weg. Diversität ist das Gegenteil von Perfektion. Je diverser Teams sind, desto höher muss die Fehlertoleranz sein. Denn wenn viele Perspektiven am Tisch sitzen, wird auch viel ausprobiert. Es werden Fehler gemacht, aber man lernt eben auch aus ihnen. Viele Unternehmen denken, mit der Gründung eines internen Frauennetzwerks sind sie schon wahnsinnig divers. Dabei ist Diversität doch viel mehr: Diversität ist eine Haltung, keine Maßnahme!
In Ihrer Dokumentation „Yes She Can – Frauen verändern die Welt“ ist unter anderem Gender-Pay-Gap ein Thema. Warum verdienen Frauen auch heute noch weniger für die gleiche Arbeit?
Onaran: Zum einen arbeiten Frauen häufiger noch in niedrig entlohnten Berufen und Branchen und unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit häufiger und länger als Männer. Zum anderen fehlt es an Transparenz, wenn es darum geht, über Geld und Verhandlungen zu sprechen. Unsicherheit ist immer eine ungünstige Verhandlungsposition. Viele Frauen fühlen sich aber unsicher, weil ihnen auch oft gesagt wird, sie sollen nicht so viel fordern, eher noch dankbar sein für das, was sie erreicht haben.
Das Entgelttransparenzgesetz gibt zwar die Möglichkeit, zu erfahren, wie viel der vergleichbare Kollege verdient, aber die Realität zeigt, dass diese Auskunftspflicht nicht allzu häufig in Anspruch genommen wird. Geldthemen sind Tabuthemen – genau das wollten wir in der Dokumentation aufbrechen und haben die Gender-Pay-Gap bewusst mit aufgenommen!
Wie kann das überwunden werden?
Onaran: Zum einen bin ich der festen Überzeugung, dass wir nicht nachlassen dürfen, in der öffentlichen Debatte immer wieder über Gender-Pay-Gap zu sprechen, denn das erhöht den Druck auf die Unternehmen. Zum anderen müssen wir unser deutsches Mantra durchbrechen, das da lautet: Über Geld spricht man nicht. Wir müssen unter Kolleginnen, Freundinnen und Bekannten genau das machen – über Geld sprechen. Uns gegenseitig im Verhandeln stark machen, sodass Verhandlungstechniken von der Ausnahme zur Selbstverständlichkeit werden!
Wie können Männer zu mehr Gender-Diversity in der Gesellschaft beitragen?
Onaran: Indem sie sich als Teil der Lösung sehen! Häufig sprechen nur Frauen darüber, warum Gender-Diversity wichtig ist. Sie kämpfen damit immer für sich selbst, dabei braucht es auch Männer, die für Frauen kämpfen. Frauenrechte sind Menschenrechte – ob im Beruf oder in der Familie! Wenn nur Frauen sich für ihre eigenen Rechte einsetzen, werden wir nur langsame Veränderung sehen.
Es braucht den CEO, der sich für Diversität in seinem Unternehmen starkmacht und es als echten Innovationstreiber sieht. Es braucht den Investor, dem auffällt, dass in seinem Portfolio an Start-ups nur Gründer sind und keine Gründerinnen. Und es braucht den Mitarbeiter, der sich wundert, wenn seine Kollegen nur Männer sind. Interessant ist doch, dass wir Fragen zu Diversität immer Frauen stellen. Frauen werden in Interviews immer nach Quote, Gendern, Frauenanteil in Führungspositionen gefragt. Warum lassen wir diese Fragen nicht auch mal Männer beantworten?
Eine aktuelle Debatte rund um das Thema Diversity dreht sich um das Gendern. Wie notwendig ist es, unsere Sprache zu ändern, um Frauen einzubinden? Gibt es da nicht wichtigere Themen?
Onaran: Sprache schafft Bewusstsein! Es macht einen Unterschied, ob ich von Chef oder Chefin spreche. Oder ob ich sage: der Journalist oder die Journalistin. Eines ist aber klar: Ich kann gendern und trotzdem tradierte Denkmuster vertreten. Dem Gendern sollte ein echter Prozess vorausgehen, sich mit dem Thema Diversität auseinandergesetzt zu haben. Diverse Teams sind innovativer, kreativer und mutiger als homogene Teams. Kein Unternehmen der Welt möchte den Anschluss verlieren, aber Unternehmen, die nicht auf Diversität setzen, tun genau das: Sie sind nicht zukunftsfähig. Talente, Kund*innen, Verbraucher*innen, wollen Unternehmen, die Haltung zeigen.
Annalena Baerbock ist die Kanzlerkandidatin der Grünen. Wenn man die Politikerin googelt, erscheinen als erstes Suchergebnisse wie „Kinder“, „Mann“ und „Familie“. Beim CDU-Kandidaten Armin Laschet steht an dieser Stelle „Lebenslauf“, „Umfragewerte“ oder „Dozent“. Woran liegt es, dass Frauen in Positionen wie ihrer sich immer noch mit Fragen zum Mutterdasein, ihren Schönheitsgeheimnissen oder ihren Charaktereigenschaften auseinandersetzen müssen?
Onaran: Das hat viel mit Stereotypen und Schubladendenken in unseren Köpfen zu tun. Eine Studie von Finsbury Glover Hering hat herausgefunden, dass das Aussehen bei Managerinnen in der Berichterstattung 50 Prozent mehr Raum einnimmt als bei Managern. Aber auch das Privatleben der Frauen wird in der Berichterstattung doppelt so häufig diskutiert wie das Privatleben der Männer. Meine Beobachtung ist, dass wir in Deutschland im Hinblick auf die Berufswelt immer noch ein Rollenbild in unseren Köpfen verankert haben, das nur ein Modell kennt: Frauen meistern Job und Kinder, Männer den Job. Alles, was davon abweicht, ist anders. Eine vielfältige Gesellschaft lebt aber eben vom Anderssein. Davon, dass es mittlerweile ganz unterschiedliche Lebensmodelle gibt. Ich freue mich auf den Moment, wenn wir Armin Laschet fragen, wie er Job und Familie vereinbart!
Mit Frauen assoziieren wir oft Attribute wie „Warmherzigkeit“ oder „Fürsorglichkeit“, Führungsprototypen sind hingegen meist mit „männlichen“ Qualitäten wie „Standhaftigkeit“ oder „Durchsetzungsfähigkeit“ behaftet. Wie können Frauen sich selbst als Führungskräfte oder Leaderinnen präsentieren? Haben Sie konkrete Tipps?
Onaran: Ich gebe Frauen immer den Tipp mit: Die einzige Person, der du es im Leben recht machen musst, bist du selbst. Wer sagt denn, wie Frauen auftreten sollten und wie vor allem nicht? Wenn Frauen gesagt wird, sie treten zu ambitioniert auf, frage ich immer: Würden Sie das einem Mann genauso sagen? Mir hat immer geholfen, mich mit anderen Frauen zusammenzuschließen, Koalitionen zu bilden, Verbündete zu suchen. Gemeinsam ist man immer stärker als alleine. Außerdem: Wer sagt denn, dass ich als Frau männlicher sein muss als alle Männer? Vielfalt bedeutet doch gerade auch, dass Unterschiedlichkeit akzeptiert wird und gewollt ist!
Bestimmte Geschlechterrollen sind in unserer Gesellschaft tief verankert. Welche Rolle spielen Erziehung und Bildung? Was muss sich in der Bildungspolitik verändern, dass Kindern schon früh ein modernes Rollenbild vermittelt wird?
Onaran: Emanzipation beginnt im Elternhaus! Wenn Kinder sehen, dass ihre Eltern sich die Vereinbarkeit von Job und Familie gleichberechtigt teilen, wird es zum Selbstverständnis. Das, was ich sehe, begreife ich. Meine Eltern sind beide immer arbeiten gegangen und haben sich Erziehung und Haushalt gleichberechtigt geteilt. Schule kann hier auch einen Beitrag leisten, indem wir gerade Mädchen mit auf den Weg geben, dass sie alles erreichen können, was sie wollen. Allzu oft heißt es doch gerade bei Mädchen: Sei nicht so laut, sei nicht so auffällig!
Ich finde: Mädchen sollten lernen, alles sein zu dürfen, was sie wollen. Aber auch bei Jungs: Warum müssen die immer die Helden sein? Bildungspolitik sollte immer auch Diversitätspolitik sein. Ein Beispiel: Eine Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung hat herausgefunden, dass in Wirtschaftsschulbüchern Frauen als Kundinnen oder Mitarbeiterin vorkommen, aber nicht als Managerin, Gründerin oder Unternehmerin. Es bleibt also hängen: Unternehmertum ist männlich. Ich bin mir sicher: Wenn wir mehr weibliche Vorbilder in Schulbüchern sehen, werden wir auch weniger Stereotype in unserer Gesellschaft haben!
Wie stehen Sie zu geschlechtsneutraler Erziehung? Kann das helfen?
Onaran: Ich bin vor allem für eine Erziehung, die Kindern den Wert der Unabhängigkeit mitgibt. Auf eigenen Füßen zu stehen, das eigene Geld zu verdienen, sich eben nicht von anderen abhängig zu machen, das ist doch echte Emanzipation! Übrigens für Frauen und Männer gleichermaßen! Unabhängigkeit bringt Selbstbewusstsein! Ich kann Pink tragen und trotzdem Feministin sein! Das, was Kinder und Jugendliche doch lernen sollten, ist, dass es keine Rolle spielt, welches Geschlecht sie haben, um das zu erreichen, was sie erreichen wollen!
Der Konflikt zwischen Familie und Karriere stellt für viele Frauen heute dennoch noch eine Hürde in der Berufswelt dar. Was muss passieren, damit sich das ändert?
Onaran: Wir brauchen in den Unternehmen unterschiedlichere Antworten auf unterschiedliche Lebenswelten. Ich sehe in Unternehmen immer mehr Jobsharing-Modelle – sprich, eine Position wird zum Beispiel von zwei Frauen geteilt. Das ist eine Antwort auf die Fragen unserer Zeit! Aber ich bin auch der Auffassung: Wenn wir mehr Führungskräfte haben, die selbst vorleben, dass die Familie ihnen genauso wichtig ist wie der Job, wird Vereinbarkeit von der Ausnahme zur Selbstverständlichkeit. Und stellen wir uns vor, dass immer mehr männliche Vorstände mal Elternzeit nehmen.
Die Corona-Pandemie hat Fragen zur Ungleichheit zwischen Frauen und Männern einmal mehr in den Mittelpunkt gestellt. Warum sind es meist Frauen, die den Spagat zwischen Homeoffice, Homeschooling und Kinderbetreuung meistern müssen?
Onaran: Das frage ich mich ehrlich gesagt auch! Auch hier beobachte ich, dass viele Familien ein tradiertes Rollenverständnis leben. Zum einen, weil eben doch die Auffassung vorherrscht, Familiensache sei Frauensache. Zum anderen, weil es uns in Deutschland an Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fehlt. Insbesondere die Kinderbetreuung muss weiter ausgebaut werden. Die Pandemie zeigt zudem, was passiert, wenn Rahmenbedingungen wie Betreuung, Kindergarten, externe Hilfe wegfallen. Dass ein Großteil der Care-Arbeit bei den Frauen selbst liegt, zeigt wieder, welche tradierten Rollenmuster es gibt. Daher gilt auch immer: Augen auf bei der Partnerwahl!
Wie früh in Ihrer Karriere oder Ihrem Leben haben Sie gemerkt, dass eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern herrscht? Gab es da einen Schlüsselmoment?
Onaran: Ganz konkret habe ich es gemerkt, als ich anfing, mich in der Politik zu engagieren, das war mit 18 Jahren. Ich war immer die einzige am Tisch – die einzige Frau, die einzige mit „Migrationsvordergrund“ und die einzige, die viel jünger war als alle anderen. Es hat mich damals schon gestört, dass es kaum Frauen in meinem beruflichen Umfeld gab. Je weiter ich beruflich kam, desto gespenstischer wurde es.
Wer sind Ihre weiblichen Vorbilder?
Onaran: Meine Vorbilder sind definitiv meine Eltern. Weil sie aus wenig viel gemacht haben. Und weil sie sich nie davon haben beeinflussen lassen, was andere sagen, sondern was sie selbst für richtig halten!