Die Impfrate in Deutschland steigt von Tag zu Tag an. Während viele bereits ihre zweite Corona-Impfung hinter sich haben, warten andere nach wie vor auf den Termin für ihre erste Spritze. Ist Neid dann eine nachvollziehbare Reaktion? Psychologin Ulrike Scheuermann, Autorin von „Immunbooster Selbstliebe“, weiß die Antwort und gibt im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news Tipps, wie bereits Geimpfte mit Wut und Ungeduld von Ungeimpften umgehen sollten.
Viele Ungeimpfte empfinden derzeit Neid gegenüber jenen, die bereits eine oder sogar zwei Spritzen erhalten haben – eine nachvollziehbare Reaktion?
Ulrike Scheuermann: Die, die bisher nicht geimpft sind, obwohl sie gerne würden, sind enttäuscht und fühlen sich benachteiligt und ungerecht behandelt. Neid ist ein ganz normales Gefühl, das zum Leben dazu gehört. Es ist der Schmerz und die Trauer über das, was ein anderer hat, was man aber selbst haben will. Sich mit anderen zu vergleichen, ist menschlich. Neid ist evolutionär gesehen sogar ein Werkzeug für menschliche Entwicklung, denn durch den Vergleich waren Menschen schon immer motiviert, sich – oder etwas – weiterzuentwickeln.
Wut und Ungeduld bei Ungeimpften nehmen immer mehr zu. Was geht in den Betroffenen vor?
Scheuermann: Meist erleben noch nicht geimpfte Menschen, die auf eine Impfmöglichkeit warten, eine Mischung unterschiedlichster Gefühle. Man ist enttäuscht, wenn es nicht klappt. Wenn dann andere ohne offensichtlichen Grund schon geimpft sind, kann aus dieser Enttäuschung eben Neid, aber auch Wut, Ärger und Ungeduld werden. Andere reagieren eher mit der Sorge, später als die meisten anderen Freiheiten zurückzuerlangen, zu reisen oder Freunde und Familie wieder zu sehen. Das rührt an tief verwurzelte, auch irrationale Ängste, nicht dazuzugehören und zu kurz zu kommen. Man fühlt sich abgehängt und benachteiligt.
Wie können bereits Geimpfte darauf am besten reagieren?
Scheuermann: Wenn man die andere Person fragt, wie es ihr damit geht, ist schon das Wichtigste getan: Man signalisiert, dass einem die Situation und die Gefühle des Gegenübers nicht gleichgültig sind. Wenn jemand aggressiv auftritt, kann man erst einmal fragen, was der Hintergrund dafür ist. Entsteht dadurch keine Entspannung, sollte man sich entweder von der Person erst einmal zurückziehen oder sich solche Angriffe klar verbitten.
Wie schaffen es Ungeimpfte, ruhig und geduldig zu bleiben?
Scheuermann: Auch hier: Kontakt aufnehmen. Entweder direkt mit der Person, auf die Sie gerade neidisch sind oder man redet mit anderen darüber. Neid ist immer noch ein tabuisiertes Gefühl und ich weiß, es fällt oft schwer, aber Reden hilft. Sobald man seine Neidgefühle mitteilt, flauen sie ab oder verlieren zumindest ihre unangenehme Dringlichkeit: „Für mich ist es schwierig, dass du jetzt einen Impftermin hast, obwohl ich mich viel eher um einen Termin bemüht habe.“ Meist erfährt man dann Hintergründe, die anders sind als gedacht. So kann sich durch Austausch das Neidgefühl relativieren und sogar einem Verbundenheitsgefühl Platz machen.
Vielen Geimpften ist es deshalb oft unangenehm, über ihre Impfung zu sprechen. Sollte man über seine Impfung schweigen?
Scheuermann: Wenn man sich über die Gefühle anderer bewusst ist, wird man nicht unnötig davon erzählen und dies nur in Situationen tun, in denen es angebracht ist. Es ist aber kein Grund, die Unwahrheit zu sagen, wenn man gefragt wird. Man kann natürlich auch sagen, dass man darüber nicht sprechen möchte.
Viele Stars und Influencer machen ihre Impfung in den sozialen Medien öffentlich, dafür kommt ihnen aber auch oft viel Neid entgegen. Ist es richtig oder eher unangebracht, öffentlich über seine Impfung zu sprechen?
Scheuermann: Wer für das Impfen werben möchte und dafür seine Rolle als Vorbild nutzt, sollte genauso wie alle anderen die Freiheit haben, dies zu tun. Aber auch hier macht der Ton die Musik: Am besten ist es, sachlich darüber zu sprechen und auch die Beweggründe zu erzählen, warum man es öffentlich macht. Wer auch noch thematisiert, dass er oder sie sich darüber bewusst ist, dass andere leider noch warten müssen, erntet womöglich sicher keine Neidreaktionen.
Auch das Kennzeichnen, dass man bereits geimpft ist, z.B. in Form von T-Shirts oder Buttons, schlägt derzeit hohe Wellen. Ist das der richtige Weg, um zu zeigen, dass man durchgeimpft ist?
Scheuermann: Ich halte das erst dann für eine angemessene Form der Kommunikation, wenn alle Zugang zu einer Impfung haben. Wenn das der Fall ist, kann es eine Art sein, für die Impfung zu werben und dazu zu motivieren. Man sollte ehrlich für sich prüfen: Was ist der wahre Grund, warum ich das jetzt mit einem T-Shirt zeigen will? Wie würde es mir gehen, wenn ich noch nicht geimpft wäre und das bei anderen sehe?
Wie sollte man kenntlich machen, dass man bereits geimpft ist, ohne dass das Gegenüber Neid verspürt?
Scheuermann: Es kommt immer darauf an, wie man davon erzählt: Vielleicht hat man selbst eine Odyssee hinter sich, bekam durch glücklichen Zufall eine Möglichkeit oder man vermittelt, dass es einem leid tut, dass das Gegenüber noch keine Impfmöglichkeit gefunden hat. Auch Rat und Hilfeangebote signalisieren, dass man mitfühlt und nicht bedenkenlos auf der Seite der Gewinner steht.
Ist der Begriff „Impfneid“ Ihrer Meinung nach angebracht?
Scheuermann: Das Wort ist weitgehend selbsterklärend und fasst eine Mischung schwieriger Gefühle zusammen, die im Moment bei vielen Menschen auftauchen, insofern ist es ja richtig. Normalerweise redet man über Neid oder Eifersucht und Missgunst nicht gerne, es ist tabuisiert. Jetzt ist wie bei vielen Themen im Zuge der Pandemie ein guter Anlass, diese Gefühle näher anzusehen und die dahinterliegenden Beweggründe und Gefühle wie Angst oder Ärger zu erkunden, und das dann bei sich und anderen mehr zu akzeptieren.
Zudem gibt es immer noch einige Menschen, die einer Corona-Impfung skeptisch gegenüberstehen. Wie geht man als Impfbefürworter damit um?
Scheuermann: Diese Diskussion haben die meisten inzwischen schon geführt, so dass es eigentlich nur noch um ein Wiederaufwärmen der immer gleichen Argumente geht. Nach meiner Einschätzung geht es nun vor allem darum, die unterschiedlichen Meinungen nebeneinander stehen zu lassen und sie als Herausforderung zur Akzeptanz der Meinungsvielfalt zu sehen. Ich plädiere für Toleranz.